Hamburg. In den USA gab es für „Demon Copperhead“ den Pulitzer. Die deutsche Übersetzung gilt nun als eine der größten Hoffnungen des Jahres.
- Der US-amerikanischen Autorin Barbara Kingsolver gelingt mit ihrem neuesten Roman ein Lese-Ereignis
- Den Leser verschlägt es zusammen mit Waisenjunge Damon Fields in die Appalachen und dem dort lebenden White-Trash
- Anleihen an Dickens‘ „David Copperfield“ sind durchaus gewollt
Damon Fields ist einer, der weitermacht mit dem Leben, immer weiter. Er lässt sich nicht unterkriegen, könnte man sagen. Er nimmt alles so, wie es kommt. Wenn es sein muss, fährt er per Anhalter durch halb Tennessee. Um ein neues Zuhause zu finden. Damon Fields ist ein Doppelgänger David Copperfields, jener Figur der Weltliteratur, Charles Dickens‘ berühmtem Waisenjungen. Ein Kind ohne familiäres Obdach, aus dem ein junger Mann wird, der nie vergisst, dass auf nichts und niemanden Verlass ist. Man nennt ihn früh, es ist nicht unbedingt freundlich gemeint, Demon Copperhead. Wegen seines roten Haars. „Demon Copperhead“ heißt auch der weltweit, aber insbesondere in den USA sehr erfolgreiche Roman, der nun auf Deutsch erscheint. Er ist, so abgedroschen es klingt: ein Ereignis.
Weil die Autorin Barbara Kingsolver ganz unschüchtern ist, was Intertextualität angeht. Anders ausgedrückt, ist „Demon Copperhead“ der glücklicherweise glanzvoll gelingende Versuch, den 1849/50 erschienenen Dickens-Stoff aus England in das Amerika der Quasi-Gegenwart zu transportieren. Wobei es mit dieser Gegenwart eine kummervolle Bewandtnis hat. In vielerlei Hinsicht sind die 1990er- und 2000er-Jahre, in denen der Roman spielt, noch eine Gegenwelt zur digitalen Jetztzeit. Aber die Opioidkrise war dieselbe; sie nahm damals ihren Anfang, und sie ist immer noch nicht vorbei.
„Demon Copperhead“ von Barbara Kingsolver: ein Roman als Ereignis
In einem Interview erklärte Barbara Kingsolver, Jahrgang 1955, dass die Schmerzmittelsucht Hunderttausender thematisch am Anfang ihrer Überlegungen zu diesem Roman stand. „Ich habe viele Tränen vergossen, zusammen mit Leuten, die mir davon erzählten, wie sie abhängig geworden sind“, erzählte die Schriftstellerin. Ihr Roman soll nun wiederum Mitgefühl wecken mit den Opfern der Pharmaindustrie und insbesondere mit ihrem Helden Demon. Und er tut es, er muss es allein deswegen tun, weil man auf 800 Seiten nicht dabeibleiben kann, wenn man den Figuren keine Sympathie entgegenbringt.
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Diese Heldinnen sind Helden sind der White Trash der Appalachen. Obwohl der abwertende Begriff durch einen anderen, womöglich noch grundsätzlicheren ersetzt werden kann – den der „Hillbillies“, der Hinterwäldler –, ist das mit dem „Abschaum“ eine passende Formulierung. Keine Selbstzuschreibung der Gemeinten, das gerade nicht. Aber die Menschen in Appalachia, wie die über mehrere Bundesstaaten erstreckende Gebirgslandschaft im Südosten der Vereinigten Staaten heißt, sind oft Gegenstand allgemeinen Spotts. Und sie leben in prekären Verhältnissen, haben mit Vorurteilen zu kämpfen.
Der Roman handelt davon, vom gesellschaftlichen Abgeschlagensein der Landeier. Seit Trump sind sie als die lange schweigende Mehrheit, als Anti-Establishment-Faktor auch soziologisch groß herausgekommen. Auch die jungen Protagonisten des Romans wissen, dass die Städter auf ihresgleichen herabblicken. Kingsolver, die in Kentucky aufwuchs, hat mit „Demon Copperhead“ ihrer Heimat ein Denkmal gesetzt. Diese Liebeserklärung ist, weil die Opioidkrise in den ländlichen Regionen so übel tobte wie nirgendwo sonst, eine todtraurige Hillbilly-Elegie. Aber mit komischen Momenten, mit Witz.
Das liegt vor allem daran, dass es der junge Demon Copperhead ist, der diese Geschichte erzählt. Seine eigene, fesselnde Geschichte, aus Sicht des jungen Menschen, der er ist. Der Blick ist noch nicht zugestellt von den Erfahrungen des Erwachsenseins, aber es ist trotzdem ein Weltwissen, das sich in Demons Bekenntnissen äußert, oft mit einer Gewichtigkeit, die man „das Pathos der Jugend“ nennen könnte. Er wächst vaterlos in einem Trailer in Lee County, Virginia, auf und muss früh erkennen, dass seine drogensüchtige Mutter eine unzuverlässige Bezugsperson ist. Sein eigentliches Zuhause ist bei den Nachbarn, der Familie Peggot. Matt, den alle „Maggot“ nennen, keineswegs zärtlich, wächst bei seinen Großeltern seinerseits ohne Vater auf. Seine Mutter ist im Knast.
Barbara Kingsolver: Ihr Held Demon Copperhead gerät ins Obhutssystem des Staates
Das sind die normalen Lebensumstände in einem Milieu, in dem eine intakte Kleinfamilie alles andere als der Normalzustand ist. Demons Schicksal ist es, nach dem frühen Tod der Mutter als Vollwaise in das Obhuts- und Pflegesystem des Staates zu geraten. Er wird auf einer Farm als Arbeitskraft ausgebeutet, lebt später in der Abstellkammer einer Familie und noch später kurz im Haushalt seiner Großmutter. Die ist eine von etlichen beinah nicht von dieser Welt stammenden Gestalten in diesem Roman; freilich als dunkle Märchenfigur, die mit dem männlichen Geschlecht auf Kriegsfuß steht und selbst ihren Blutsverwandten nicht länger als unbedingt nötig beherbergen will.
Aber sie fühlt sich ihm gegenüber doch verpflichtet. So wie, bei aller Verlorenheit in den Wäldern des Lebens, der junge Demon immer wieder auf Helferfiguren trifft, die ihm in diesem Bildungsroman den Weg weisen. Die Großmutter hat zwar etwas gegen Männer einzuwenden, aber nichts gegen junge Leute an sich. Mädchen ohne familiären Halt nahm sie immer wieder auf und förderte sie. Dieser feministische Umstand sorgt über Umwege dafür, dass Demon im Haushalt eines Footballstars landet, zum Star der Sportarena wird und in der Tochter nämlichen Trainers eine neue Freundin findet.
Roman „Demon Copperhead“: Vergeudetes Leben im Sumpf der Drogen
Diese Neuversion von „David Copperfield“ ließe sich leicht auf die Figurenkonstellationen des Urstoffes untersuchen – eine schöne literarische Spielerei. Man kann „Demon Copperhead“ aber auch einfach vollkommen ohne Kenntnis des Klassikers lesen. Das vergeudete Leben im Sumpf der Drogen und der Kriminalität beginnt für Demon, als er sich eine Verletzung zuzieht und die auf, nun ja, amerikanische Weise zu kurieren sucht; mit ärztlich empfohlenem Reinpfeifen von OxyContin. Der Albtraum des familiären Unbehaustseins wird zum Albtraum der Sucht.
Im zweiten Teil dieses atemlos erzählten Romans wird aus der dramatischen Geschichte eines Waisenjungen die dramatische Geschichte einer lost generation in einem vergifteten Landstrich. Die längst eingeführten Jugendfreunde Demons treten nun wieder auf, und alle sind sie den Pillen und anderen Rauschmitteln verfallen. Aber, wie gesagt, Damon Fields aka Demon Copperfield, diese unvergessliche Figur, hört nie auf, daran zu glauben, dass irgendwann alles besser wird. Trotz der Verluste, die er einfährt, und der Schutzlosigkeit, der er immer wieder ausgesetzt ist.
Barbara Kingsolver bekam 2023 den Pulitzer-Preis für ihren großen amerikanischen Roman „Demon Copperhead“. Er ist, geschrieben ganz im Stile des realistischen Erzählgiganten Charles Dickens, ein Werk, mit dem man sich als Lesender von der Realität abkoppelt. Hat was vom jugendlichen Mit-der-Taschenlampe-unter-der-Bettdecke-Lesen. Wegen Büchern wie diesem hat man mit dem Lesen überhaupt einst erst angefangen. Kingsolver kommt auf Lesereise nach Deutschland. Am 14. März tritt sie auf Einladung des Literaturhauses im Magazin-Filmkunsttheater auf.