Hamburg. J.D. Vance erklärt in seinem Buch „Hillbilly-Elegie“, warum sich weite Teile der Arbeiterschicht für den US-Präsidenten entschieden.

Im Grunde ist dieses Buch, das zuerst in den USA und nun auch in Deutschland ein Bestseller wurde, eine Ode an die Großmutter. Genauer: an die Großmutter des Schriftstellers James David Vance, der ganz in der Tradition amerikanischer Autoren (und insbesondere eines Autors) seine Vornamen abkürzt und sich J.D. Vance nennt, aber nach eigenem Bekunden schon als Kind „J.D.“ gerufen wurde.

„Hillbilly-Elegie“ heißt Vances autobiografisches Buch. Mit ihm tritt er nicht nur an, die ersten knapp 30 Jahre seines Lebens – der Autor wurde 1984 in Mid­dletown, Ohio geboren – zu beschreiben, sondern auch die Wählerschicht zu umreißen, die im vergangenen Herbst Donald Trump ins Amt wählte.

Gesellschaftsanalyse als Autobiografie

Dass er selbst dem White Trash, der abgeschlagenen, sich selbst als chancenlos betrachtenden unteren Mittelschicht entfliehen konnte, ist der Standpunkt, von dem aus Vance sein Leben und die gesamte Gesellschaft sortiert. Die Kernbotschaft, was seinen unwahrscheinlichen Lebenslauf-Erfolg angeht, findet der ehemalige Jura-Student der Elite-Universität Yale und hauptberufliche Investor in seinen späten Jugendjahren: Das zehnte bis zwölfte Highschool-Jahr brachte eine ungekannte Stabilität in Vances Leben. Er lebte in dieser Zeit permanent bei seiner Großmutter („Mamaw“).

Nichts als Chaos

Nachdem er vorher in etlichen Kapiteln seine Herkunft aus einer aus Kentucky stammenden und nach Ohio übergesiedelten Arbeiterfamilie nachgezeichnet hat, in der zumindest in der zweiten Generation nichts als Chaos herrschte, kommt er also zu einer banal klingenden Erkenntnis: Wer von zu Hause aus Sicherheit vermittelt bekommt, kann erfolgreich berufliche und private Lebenswege beschreiten.

Vance betrachtet sein altes, abgestreiftes frühes Teenager-Selbst als exemplarisch für die deklassierte Arbeiterklasse. Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt, Drogen: All das spielt sich in Vances Familie ab, wo seine drogensüchtige Mutter ständig neue Ehemänner und Lebenspartner hat und ihren Kindern alles bietet – außer Fürsorge und Stabilität.

Vom Aufstiegswillen beseelt

In solch einem Umfeld kann eigentlich nichts gedeihen, weil die Sonnenseite ganz woanders liegt. Und doch hat sich J.D. Vance, und davon handelt dieses Buch ebenso wie von der Tristesse am Bodensatz der Vereinigten Staaten von Amerika, nach oben gekämpft. Ganz einfach deswegen, weil er ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben vom Aufstiegswillen beseelt war.

Genau das träfe auf viele Amerikaner nicht zu, behauptet Vance, der die Bevölkerungsgruppe, der er entstammt, zwar mit Empathie betrachtet, aber auch schonungslos in seinen Schlüssen ist. So seien grundlegende Unterschiede und zwei „Sorten von Sitten“ festzustellen, schreibt Vance: „Meine Großeltern verkörperten die erste: altmodisch, mit stillem Gottvertrauen, selbstverantwortlich, fleißig. Meine Mutter – und zunehmend unser ganzes Viertel – verkörperten die andere: konsumorientiert, wütend, misstrauisch.“

Konkrete Sozialstudie

Gesellschaftsanalyse ist bei Vance keine soziologische Theorie-Übung, sondern konzentrierte Ich- und Bezugsgruppen-Deutung. So entsteht eine konkrete Sozialstudie, die plastisch macht, was Wissenschaftler in Statistiken fassen. Autobiografisches Schreiben hat Konjunktur, wir leben im Zeitalter der Personifizierung und auch: der Selbstinszenierung. Letztere fällt bei Vance noch mehr ins Gewicht als bei dem Franzosen Didier Eribon, dessen Memoiren-hafte „Rückkehr nach Reims“ wiederum mit deutlich mehr sozialwissenschaftlicher Expertise den Triumphzug des Front Nationale beschrieb.

Die Erfolgsstory des Autors und Aufsteigers J.D. Vance mag viele Leser in ihren Bann schlagen – schließlich ist der moderne Bildungsroman eines jungen Mannes, der viele Hindernisse überwindet, auch eine Heldengeschichte. Dennoch wirken viele Kapitel – etwa das, in dem der unkultivierte Hinterwäldler Vance erst die Feinheiten bei der Weinbestellung lernen muss – klischeehaft. Eine wichtige Stufe seiner Selbstdisziplinierung war übrigens der Dienst am Vaterland. Jenes Kapitel liest sich wie ein Werbetext für die Marines. Wie überhaupt Vances patriotische Liebesbekundungen an die USA enervierend sind, zumindest für manchen deutschen Leser.

Erbostheit über die „Welfare Queens“

Vances ehrliche Erbostheit über die „Welfare Queens“ und notorischen Sozialgeldbezieher, die nie in ihrem Leben gearbeitet haben, ist dagegen authentisch. Die Entkoppelung der herrschenden Parteien von weiten Teilen des Volkes gilt als eine der Ursachen des Trump-Schocks.

Wer keine Chancen für eine Verbesserung der eigenen Lebensumstände sieht, der ist anfällig für populistische Parolen. Die richteten sich bei Donald Trumps Wahlkampf in nie dagewesener Weise gegen die sogenannten Eliten. Vance verweist auf die Vorstufe des Wutbürgertums amerikanischer Prägung: Schon in den Siebzigerjahren wandten sich Bundesstaaten, die vorher verlässlich demokratisch gewählt hatten, den Republikanern zu, weil die hart arbeitenden Arbeiter sich an den Sozialhilfeempfängern störten, die „fürs Nichtstun“ bezahlt würden.

Hillbilly-Elegie von J. D. Vance
Hillbilly-Elegie von J. D. Vance © Ullstein Buchverlage GmbH

Die „Hillbilly-Elegie“ erklärt auf nachvollziehbare Weise, wie sich an den Niedergang der alten Industrien der Niedergang einer ganzen Schicht anschloss. Sie fiel der politischen Vergessenheit anheim. Wer etwas über die mentale Verfasstheit der Abgeschlagenen lernen will, über deren Einrichtung im Elend, der lese dieses Buch.

Weil auch die deutsche Gesellschaft nicht so durchlässig ist, wie sie sein müsste, ist manches auf hiesige Zustände übertragbar. J.D. Vance lässt übrigens keinen Zweifel daran, dass sein Aufstieg vor allem auch mit Glück zu tun hatte.