Hamburg. Harbour Front fällt aus? Jetzt hieß es erst mal: Na und. Im Uebel & Gefährlich elektrisierte Hamburgs lange Literaturnacht die Massen.

„Urban Apes“ steht auf den Schildern über der Wegzuführung zum Bunkerclub. Steht das immer da? Keine Ahnung, schon lange nicht mehr da gewesen. Eine Schande. Die Stadtaffen sind am Donnerstagabend spät dran im Uebel & Gefährlich, halb acht soll es schon losgehen, lange Schlange im Schneeregen. Macht aber nix, jedes Opfer wird erbracht. Die Ham.lit ruft, Hamburgs Lange Nacht der Literatur. Von Lucy Fricke, der aus Hamburg stammenden Berliner Autorin einst erfunden, vom Hamburger Verleger Daniel Beskos übernommen und höchst erfolgreich weitergeführt, ist die Ham.lit die sexieste Literaturveranstaltung der Stadt. Sie findet nur einmal im Jahr statt, immer im kalten Februar. Schade.

Ein Lese-Speeddating mit Bar, Flaschenbier und smarter Gegenwartsliteratur: Den Anfang macht Helene Hegemann, die Berlinerin. Ja, die mit „Axolotl Roadkill“, Nightlife, Techno, Drogen. Hegemann ist 31 Jahre alt mittlerweile. Längst kein skandalumtostes Jungwunder der deutschen Literatur mehr, sondern im Betrieb angekommene Autorin. Sie lebe halt irgendwie vom Schreiben, verkündete Hegemann dem Publikum. Wie die meisten anderen auch mehr schlecht als recht von ihrem Schreiben leben.

Ham.lit in Hamburg: „Ist kitschig, ich weiß“

Warum kaufen die Leute weniger Bücher als früher? „Die sagen mir: Es ist sinnlos, sich das durchzulesen, was wer anders sich ausgedacht hat“, berichtet Hegemann. Gelächter. Würde hier eh keiner sagen. Dabei (Hegemann: „Ist kitischig, ich weiß“) helfe gegen die Zumutungen der Welt doch nur Poesie. Hegemanns aktuelles Buch heißt „Schlachtensee“ und ist eine Erzählungssammlung. Sie liest, erstmals überhaupt angeblich, „Die Pfauengeschichte“. Krasse, absurde, weltläufige Powerprosa mit totem Getier und juveniler Abgeklärtheit. Die halbe Stunde, die jedem Vorlesenden zugestanden wird, ist schnell um.

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Man hätte ihr gerne länger zugehört. Es war wie so oft bei Lesungen: Eigentlich geiern die meisten doch, oder sagen wir: hoffen die meisten doch auf Entertainment und den komischen Moment. Literatur ist aber auch bei den jüngeren Leuten überwiegend eine ernste Angelegenheit. Lesen ist ja an sich ziemlich privat, es sei denn, man deklamiert vor lauter literarischer Begeisterung laut vor sich hin oder sitzt im Deutsch-LK beziehungsweise Germanistik-Seminar. Da versenken wir uns in ernste Themen. Live ist Literatur immer jedoch dann besonders gut, wenn es möglichst viel comic relief gibt.

Die Ham.lit ist immer ausverkauft: Literatur im Nachtclub kommt an.
Die Ham.lit ist immer ausverkauft: Literatur im Nachtclub kommt an. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Comic relief? Weltläufig? Hilfe, wie reden die denn hier, am Ende etwa wie alle anderen, also auch: wir selbst? „Mein Freund las das Buch vor mir, er war total hooked von den keypoints“, sagte Moderatorin Anne Sauer einmal, als sie Ami Gudarzi (das ist der mit dem intensiven, sehr überzeugenden Iran-und-Österreich-Roman „Das Ende ist nah“) ankündigte. Und Dietlind Falk freute sich so über amüsierte Publikumreaktionen bei ihrer Lesung aus dem Tattoo-Roman „No Regrets“: „Ich sehe, hier sind Leute, die sich dazu relaten können.“ Aber na klar, wir können das appreciaten, denn wir sind contemporary, würde Jil Sander, die Großmutter der Denglisch-Kommunikation, da sicher ausrufen.

Ham.lit mit Charlotte Gneuß: Da fallen einem keine deutschen Worte mehr ein

Die Plöner Weltbürgerin Sander war selbstredend nicht im Uebel & Gefährlich, diesem Hamburger Ort der Popkultur. Popkulturell geht das auch klar mit dem coolen Reden, wir sagen jetzt trotzdem mal: Guckt auf Netflix doch auch mal wieder was in schlechter Synchronisierung. Da fallen einem dann die deutschen Worte besser ein künftig. Es ist übrigens, damit da kein Zweifel aufkommt, ein herrlicher Abend mit Autorinnen und Autoren wie Charlotte Gneuß, Slata Roschal und Antonia Baum. Aber man hätte vielen, es ist so die Laune an diesem Abend, gerne zugerufen: Lest doch mal lustig! Wir wollen (noch) mehr lachen!

Schlechte Laune kommt aber nirgendwo auf; ist auch zweifelhaft, ob hier jemand trauert, weil Hamburgs großes Literaturfest in diesem Jahr die Segel streicht. Harbour Front fällt aus? Jetzt ist erst mal Ham.lit. Täuschen wir uns, gab es da früher auch mal mehr Musik? Musik und Literatur ist immer eine gute Verbindung, da geht in Hamburg noch viel mehr, auch über elbphilharmonische Großveranstaltungen hinaus, zum Beispiel im Literaturhaus. Dort tritt bald immerhin Markus Berges (Erdmöbel) auf, am 4. April, mit neuem Roman und alten Liedern – ein schöner Anfang, was das angeht.

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Zurück zur Ham.lit: Diesmal steht die Literatur deutlich im Fokus. Buchpreis-Finalist Necati Öziri setzt im Ballsaal, wie der größte Raum des Uebels bekanntlich ganz großartigerweise heißt, den Schlusspunkt. Er ist der prominente Headliner. Bei dem davon auszugehen ist, dass er wie alle anderen gerne hier auftritt. Die Ham.lit ist eine Erfolgsgeschichte, weil alle das Nicht-Literaturhaus-Buchhandlungs-Mäßige lieben, Besucherinnen und Besucher, Autorinnen und Autoren.

Für den größten Jubel sorgt derweil erwähnte Dietlind Falk. Ihr Roman „No Regrets“ ist eine Würdigung der guten, alten antibürgerlichen Praxis des Tätowierens. „No Regrets“ ist ein unterhaltsames, tatsächlich ans Herz gehendes und vor allem lustiges Buch. Nicht jeder Gag ist sophisticated, aber hey, was soll’s. Als Falk live von ihrem Tattoo-Meister Hank und seinen Erlebnissen im abgerockten Badezimmer erzählt, ist Stimmung in der Bude, wie wir alten Leute sagen. Bis nächstes Jahr, Ham.lit!