Hamburg. Die Opioidkrise geht auf ein Schmerzmittel zurück, das eine US-Familie reich machte. Ihre Geschichte macht fassungslos.
Jahrzehntelang hatte das Unternehmen Purdue Pharma es geschafft, Klagen mit außergerichtlichen Vergleichen zu regeln. Vor drei Jahren war damit Schluss, als der US-Bundesstaat Massachusetts als erster von vielen acht Mitglieder des Sackler-Clans anklagte, der hinter der milliardenschweren Firma steht. Gleichzeitig hatten nahezu alle Bundesstaaten separate Klagen angestrengt.
In einer von vielen Anhörungen sagte ein Kongressabgeordneter in Richtung der Pharmazieunternehmer folgenden Satz: „Es bringt mein Blut zum Kochen, wenn ich Sie bei Ihren Aussagen sehe. Ich bin mir nicht sicher, ob mir eine Familie in Amerika einfällt, die bösartiger ist als Ihre.“
„Imperium der Schmerzen" setzte Maßstäbe im Genre
Es ist einer von vielen Sätzen, den der amerikanische Journalist Patrick Radden Keefe in seinem nun in der deutschen Übersetzung erscheinenden Buch „Imperium der Schmerzen. Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioid-Krise auslöste“ zitiert. Schon bei Erscheinen im Original erregte es Aufsehen und setzte Maßstäbe im Genre des erzählenden Sachbuchs. Eine große deutsche Zeitung schrieb damals, „Imperium der Schmerzen“ ähnele formal den „Buddenbrooks“. Das wiederum ist so dermaßen übertrieben, dass es schon wieder gut ist. Der herausragende Autor Keefe ist am 25. Oktober im Literaturhaus zu Gast, um über die Arbeit an seinem Buch und dessen Thema zu berichten.
Und dieses Thema hat es in sich. Dieses Thema wird von Radden auf 500 Seiten so tiefschürfend und detailliert, so unerbittlich und glänzend beschrieben, dass man sich beim Lesen irgendwann fragen muss, ob man bald mal den eigenen Blutdruck überprüfen sollte. Und ob man sich von der tragischen Problematik nicht auch ein wenig zu gut unterhalten fühlt.
US-Opioidkrise forderte Hunderttausende Todesopfer
Die Anzahl der Todesopfer, die Amerika in der seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre anhaltenden Opioid- und Heroinkrise zu beklagen hat, geht auf die Million zu. Auslöser dieser Krise, daran besteht seit vielen Jahren kein Zweifel, ist das Schmerzmittel Oxycontin, das Purdue Pharma 1995 auf den Markt brachte. Keefe hat nicht das erste Buch über den Skandal geschrieben, aber das erste, in dem die Familie und Firmengeschichte so minuziös durchleuchtet wird.
Als Richard Sackler, der Sohn einer der beiden Brüder, die 1952 Purdue Pharma übernahmen, vor mehr als 30 Jahren begann, das Unternehmen auf maximalen Profit zu trimmen, änderte er das medizinische Narrativ. In einem Land, in dem Schmerzmittel ohnehin eine vergleichsweise große Rolle im Alltag spielten, wollte er mit der schmerzlindernden Pillengabe die Art und Weise, wie Ärzte ihren Job machen, fundamental verändern.
Purdue-Vordenker sprach bei Drogensüchtigen von „Kriminellen“
Deshalb schickte das Unternehmen Hunderte Vertreter auf Werbetour. Gelernt hatte er die aggressive PR von seinem Onkel Arthur Sackler (1913-1987), der die Grundlagen des Familienwohlstands mit einer Werbekampagne für Valium schuf. Oxycontin, das auf dem 1916 in Frankfurt entwickelten Wirkstoff Oxycodon beruht, wurde ein durchschlagender Erfolg. Weil seine Vermarktung auf einer Lüge beruhte. Oxycontin erleichtere Schmerzpatienten das Leben, mache aber nicht abhängig, war das Versprechen – eine Irreführung, die früh entlarvt wurde.
Weil eine in diesen Ausmaßen beispiellose Medikamentenabhängigkeit zunächst den ländlichen Bereich, den Rust Belt des Mittleren Westens heimsuchte. Purdue wiegelte ab, ging großen Gerichtsprozessen aus dem Weg, zweifelte nie an der Rechtmäßigkeit der hohen Profite, die auf dem Firmenkonto landeten. Die Sacklers redeten sich stets heraus, indem sie darauf verwiesen, dass nicht das Medikament, sondern die, die es missbrauchten, das Problem seien. Purdue-Vordenker Richard Sackler sprach privat im Hinblick auf Drogensüchtige von „Kriminellen“. So weit, so zynisch.
Pillendynastie brachte Verderben über Amerika
In einem mit heißem Herzen – wie soll es anders sein, wenn es um Moral geht? – und kühlem Verstand geschriebenem Werk gelingt es Patrick Radden Keefe, das scheinheilige Reich der Sacklers in Schutt und Asche zu legen. Nicht, dass es des Buches tatsächlich noch bedurfte. Die Familienfestung ist längst sturmreif geschossen. Keefe selbst veröffentlichte 2017 im „New Yorker“ einen Artikel über das Verderben, das die Pillen-Dynastie über das Land und seine Leute, aber auch nach Übersee brachte.
Es ist eine Geschichte von geradezu epischen Ausmaßen: Wie Arthur Sackler begann, sich als neureicher Emporkömmling in die Elite einzukaufen, und wie die anderen Familienmitglieder es ihm über Jahrzehnte gleichtaten. „Philantropie“ heißt das der Allgemeinheit geltende Sponsorenengagement auf Wikipedia. Die Sacklers verteilten ihr Geld an Wissenschaft und Kultur; und sie waren stets bemüht, ihren „guten Namen“ aus der so einträglichen Sache mit den Medikamenten herauszulassen.
Autor Keefe: Einmal lag ein USB-Stick anonym in seiner Post
Obwohl die Gefahrenlage klar war und Purdue Pharma bereits 2007 zu einer Strafzahlung verurteilt wurde, wurden die Sacklers hofiert. Mittlerweile will niemand mehr ihr Geld. Nicht Yale nicht, nicht Harvard, nicht die hochrangigsten Museen der Welt. Ihre Milliarden hat die weit verzweigte Familie übrigens zu einem guten Teil behalten. Sie wurden über Jahrzehnte aus dem Unternehmen abgezogen, das die Eigentümer wiederum als Konsequenz aus den rechtlichen Auseinandersetzungen bankrott gehen ließen.
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„Imperium der Schmerzen“ ist mit Hingabe geschrieben und so gründlich recherchiert wie nur irgendeines. Interviews mit 200 Weggefährten und Bediensteten, Waggonladungen von Gerichtsakten, Emails, und ein anonym in seinen Briefkasten gesteckter USB-Stick mit internen Unterlagen: Keefe schöpfte aus dem Vollen und trug es zu einem faszinierenden Porträt einer irritierend uneinsichtigen Familie zusammen, die sich nie für ihr Vorgehen entschuldigte.