Hamburg. „Die Unsichtbaren“: Regisseur Matthias Freier erzählt von einer unbeirrbaren Kommissarin und dem chauvinistischen Polizeialltag in Hamburg.

Es war einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte: Der sogenannte Säurefassmörder Lutz Reinström wurde wegen zweier nachgewiesener Morde 1996 in Hamburg zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Zeitungsartikel und Podcasts erzählen bis heute von den furchtbaren Verbrechen dieses Täters, für Amazon Prime wurden die Geschehnisse in der Miniserie „Gefesselt“ mit Oliver Masucci fiktionalisiert.

Doch es ist immer der (faszinierte) Blick auf den Täter, auf das nur schwer verständliche Böse, der die Darstellungen dominiert. Die Opfer spielen meist ebenso eine Nebenrolle wie die Ermittlerin, die Reinström schließlich zur Strecke brachte: die Hamburger Kriminalkommissarin Marianne Atzeroth-Freier.

Kino Hamburg: Ein Film über die Frau, die den Säurefassmörder zur Strecke brachte

Über ihre damaligen Ermittlungen hat ihr Stiefsohn Matthias Freier (54), bisher vor allem bekannt durch Musikvideos (Nena, Udo Lindenberg) und künstlerisch anspruchsvolle Werbefilme (Shiseido, Toyota), den mit Spielszenen angereicherten Dokumentarfilm „Die Unsichtbaren“ gedreht, der auf dem Filmfest Hamburg seine Premiere feierte und nun in die Kinos kommt.

Immer wieder hatte „Janne“, wie er sie im Abendblatt-Gespräch nennt, ihm von diesem Fall erzählt, dessen Aufklärung allein ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken war. Im Hamburg der beginnenden 90er-Jahre eckte sie als Frau in einer von Männern dominierten Mordkommission schnell an, so Matthias Freier. „Sie musste sich immer in ganz besonderem Maße beweisen und stieß mit ihrer Dickköpfigkeit vielleicht auch mal Kollegen vor den Kopf.“ Besonders problematisch war die Beziehung zum damaligen Dienststellenleiter, der ihr noch Jahre später nicht die Hand gab und ein Interview im Rahmen der Filmrecherche ablehnte. „Janne war keine Feministin im engen Sinne“, sagt Freier rückblickend, „sie wollte einfach ernst genommen werden.“

Regisseur Matthias Freier mit seiner Stiefmutter Marianne Atzeroth-Freier, von der der Film „Die Unsichtbaren“ handelt.
Regisseur Matthias Freier mit seiner Stiefmutter Marianne Atzeroth-Freier, von der der Film „Die Unsichtbaren“ handelt. © Rejell | Rejell

Gegen große Widerstände ermittelte sie – teilweise in ihrer Freizeit – im Fall zweier vermisster Frauen und konnte Verbindungen zu einem Entführungsfall herstellen, in dem Lutz Reinström bereits überführt und verurteilt worden war. Die Einsetzung einer Sonderkommission ging maßgeblich auf ihr beharrliches Insistieren zurück. Bei einer Durchsuchung auf Reinströms Grundstück wurde schließlich ein Atombunker entdeckt, in dem die Opfer über Wochen gefangen gehalten, gefoltert und ermordet worden waren, im Garten fand sich ein vergrabenes Säurefass mit teilweise aufgelösten Leichenteilen. Ein weiteres Säurefass wurde auf dem Grundstück von Reinströms Sommerhaus im Herzogtum Lauenburg gefunden.

Kino Hamburg: Fotos von den Tatorten haben den Regisseur bis in die Träume verfolgt

Viele Vorlagen für krasse, spekulative Bilder und eine Fokussierung auf den sadistischen Täter, dem später eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert wurde, doch Matthias Freier ging es um etwas anderes: „Ich wollte nicht die Sensationsgier bedienen und abermals dem Täter eine Bühne geben, sondern von der Opferseite erzählen und von der Frau, die diesen Mann zur Strecke gebracht hat.“ So ist „Die Unsichtbaren“ ein Film geworden, der die Opfer respektiert und sie deshalb in ihrem Verlies nicht zeigt. Und erst recht nicht die sadistischen Folterungen.

„Ich habe die Polaroids gesehen, die Reinström von seinen Opfern gemacht hat, und ein Polizeivideo, in dem das Auskippen der Fässer zu sehen ist“, berichtet Freier. „Diese Bilder haben mich bis in die Träume verfolgt, sie waren wirklich traumatisch.“ Aber, so findet er, sie tragen nichts zu der Geschichte bei, die er erzählen wollte. Zum Beispiel die einer chauvinistischen Polizeiarbeit, die man vielleicht in den 1960er-, aber nicht noch in den 90er-Jahren als ganz alltäglich vermutet hätte. Zu diesem Zweck setzte Freier nicht nur auf Dokumentaraufnahmen, auch einige nachgestellte Szenen haben Eingang in seinen Film gefunden.

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Schwer getroffen habe seine Stiefmutter, dass sie, auch nachdem der Täter vor allem durch ihre Ermittlungsarbeit gefasst worden war, keine Anerkennung erhielt, sagt Matthias Freier. Im Gegenteil: Als damals ein Abendblatt-Artikel erschien, in dem ihre Leistung gewürdigt wurde, musste sie sich im Kommissariat schwere Vorhaltungen machen lassen. Die Atmosphäre war so vergiftet, dass Marianne Atzeroth-Freier schließlich in das Dezernat Wirtschaftskriminalität wechselte. Dort ermittelte sie auch intern gegen Kollegen – erneut keine Stelle, um sich Freunde zu machen.

„Sie hat das alles auch nach der Berentung noch sehr beschäftigt“, sagt ihr Stiefsohn. „Es ist ihr wirklich an die Nieren gegangen.“ Für ihn deshalb kein Zufall, dass sie schließlich ausgerechnet an Nierenkrebs erkrankte. 2017 starb Marianne Atzeroth-Freier nach langem Kampf. „Die Unsichtbaren“ setzt dieser starken Frau nun ein sehenswertes Denkmal.

„Die Unsichtbaren“Preview Di 13.2., 19.0, Zeise-Kino, in Anwesenheit von Regisseur Matthias Freier