Hamburg. Nach 21 Jahren als Direktor des Filmfests geht Albert Wiederspiel. Nächste Woche startet sein letztes Festival. Ein Abschiedsgespräch.

Im Filmfest-Büro an der Mönckebergstraße herrscht konzentrierte Betriebsamkeit. Es gibt noch eine Menge zu tun bis zur Eröffnung am 28. September, doch Albert Wiederspiel, Chef des ganzen Ladens, wirkt trotzdem entspannt. Eine herzliche Umarmung zur Begrüßung, ein wenig Smalltalk, von Hektik keine Spur – aber fröhliche Gelassenheit gehört zum Naturell des 62-Jährigen, der 2003 sein erstes Filmfest Hamburg leitete. Mit der 21. Auflage unter seiner Ägide setzt er nun den Schlusspunkt unter eine Filmfest-Ära, die das Weltkino in den Mittelpunkt rückte, weniger aus Stars denn auf Inhalte setzte.

1960 in Warschau geboren, wanderte seine Familie in Folge antisemitischer Ausschreitungen 1969 nach Dänemark aus. Wiederspiel wuchs in Kopenhagen auf und studierte Filmwissenschaft in Paris. Bevor er zum Leiter des Filmfests Hamburg wurde, war er für internationale Filmproduktionsfirmen wie Twentieth Century Fox und Universal Pictures tätig. Er ist mit dem Schauspieler Gustav Peter Wöhler verheiratet.

Filmfest Hamburg: Albert Wiederspiel zum Abschied – „21 Jahre sind genug, jetzt muss eine neue Generation ran“

Herr Wiederspiel, dieses Filmfest Hamburg ist Ihr letztes. Was überwiegt: Wehmut oder Erleichterung?

Ehrlich gesagt: Ich habe noch gar nicht verinnerlicht, dass das mein letztes Filmfest ist, wahrscheinlich spüre ich das erst hinterher. Es ist jedenfalls überhaupt keine Wehmut da. Ich hatte immer vor, es bis 2023 zu machen, und das wusste auch der Senator. In meiner Branche kleben die Leute tendenziell an ihren Posten, das wollte ich so nicht: 21 Filmfest-Ausgaben sind auch wirklich genug, jetzt muss eine neue Generation ran, wir Älteren können ja nicht die ganze Zeit die Stühle besetzen. Ich gehe mit einem sehr guten Gefühl, weil meine Nachfolgerin Malika Rabahallah meine Wunschkandidatin war. Übrigens auch, weil durch sie der Migrationshintergrund in der Filmfest-Leitung, den ich ja auch habe, erhalten bleibt. Das passt zum Filmfest und zu Hamburg: Lasst uns tatsächlich weltoffen sein und nicht nur davon reden.

Wenn Sie jetzt auf die Zeit seit 2003 zurückblicken: Hat sich das Filmfest so entwickelt, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

In großen Teilen, ja. Ich wollte zum Beispiel unbedingt ein Kinderfilmfest machen, das ich dann auch gleich im ersten Jahr eingeführt habe, und es hat sich bis heute sehr gut entwickelt. In diesem Jahr gibt es beim „Michel“ erstmals einen Preis, der mit 10.000 Euro dotiert ist. Gestiftet wird der von Kinobetreiber Hans-Peter Jansen und trägt den Namen „Maja“, in Erinnerung an seine Frau Lydia Matern-Jansen, die Ende 2021 gestorben ist. Außerdem wollte ich, dass alle Festivalkinos durch die Buslinie 5 verbunden sind und man sehr leicht von einem Kino zum anderen kommt. Das war auch eine Zeitlang so, heute sind durch das Studio und das Alabama allerdings auch Kinos dabei, die nicht mit dieser Buslinie erreicht werden können. Und es war mir wichtig, tatsächlich das Weltkino zu zeigen, also Filme aus dem riesigen internationalen Filmozean, die man im normalen Kinoalltag nicht zu sehen bekommt. Deshalb bin ich so glücklich, in meinem letzten Jahr mit einem jordanischen Film eröffnen zu können. Die schöne Erfahrung, die ich in all den Jahren machen durfte, war, dass das Hamburger Publikum an diesem Weltkino großes Interesse hat. Überhaupt muss ich es sehr loben: Die Hamburger sind vielleicht nicht die Experimentierfreudigsten, doch wenn man sie einmal für sich gewonnen hat, sind sie sehr treu.

Filmfest-Chef: „99 Prozent unserer Gäste waren sehr nett. Den Rest vergisst man schnell“

Welche Filme, Menschen, Situationen haben bei Ihnen besonderen Eindruck hinterlassen?

2003 hatten wir Sophia Loren beim Filmfest, und es war sehr lustig zu sehen, wie die Paparazzi, die mit ihr nach Hamburg gereist waren, sich über die Fußgängerbrücke an der Dammtorstraße hängten, um die besten Bilder zu bekommen. 99 Prozent unserer vielen Gäste waren sehr nett, und das restliche eine Prozent vergisst man glücklicherweise schnell. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir natürlich die Eröffnung des Filmfests Hamburg 2011 mit Mohammad Rasoulofs „Auf Wiedersehen“, weil der in seiner Heimat verfolgte iranische Regisseur gerne mit seiner Familie in Hamburg bleiben wollte. Mithilfe des damaligen Bürgermeisters Olaf Scholz haben wir das dann hinbekommen. Heute leben zahlreiche iranische Filmemacher in Hamburg im Exil. Rasoulof selbst wurde allerdings vor einigen Jahren in seiner Heimat der Pass abgenommen, und er sitzt in Teheran fest.

Gibt es etwas, was Sie im Rückblick anders gemacht hätten?

Ohne jetzt Titel nennen zu wollen, gab es auch weniger erfolgreiche Eröffnungsfilme, das gehört eben dazu. Man sieht vor dem Festival manchmal einen Film und ist zunächst begeistert, aber dann sieht man ihn noch einmal in einem großen Kinosaal wie dem Cinemaxx 1 mit dem ganzen Publikum und stellt plötzlich fest, dass er doch nicht so gut passt. Ist aber nur sehr wenige Male so gewesen.

Albert Wiederspiel: „Man muss ein guter Gastgeber sein“

Unter den Festivals nicht nur in Deutschland ist die Konkurrenz um starke Filme groß. Wie setzt man sich da durch?

Natürlich spielt es eine große Rolle, wie gut man vernetzt ist, und da habe ich auch immer sehr auf meine Programmleiterin Kathrin Kohlstedde setzen können, die übrigens seit 1999 beim Filmfest das Programm macht und auch bleiben wird. Ein besonders gewichtiges Argument für das Filmfest Hamburg ist unser so interessiertes und engagiertes Publikum. Die Regisseurinnen und Regisseure lieben es, ihre Filme vor solch einem Publikum zu zeigen, deshalb kommen viele gerne immer wieder und erzählen auch anderen davon, wie toll es in Hamburg war. Für uns die perfekte Werbung. Außerdem ist unsere Besucherbetreuung ganz großartig. Das ist umso wichtiger, als wir mit unserem niedrigen Etat keinen großen Luxus bieten und niemanden in der Businessclass einfliegen lassen können und wollen. Und ganz ehrlich: Ein Bling-Bling Festival mit viel Glamour passt irgendwie nicht zu Hamburg. Viel wichtiger ist es, ein guter Gastgeber zu sein, man muss Wärme ausstrahlen, die Gäste müssen sich willkommen fühlen. Die Bedeutung dieser Gastgeberfunktion wird oft unterschätzt.

Wie haben Sie in all den Jahren die Unterstützung durch die Stadt Hamburg erlebt?

Ich hatte fünf Senatorinnen und Senatoren in meiner Amtszeit, und so gut wie jetzt, mit Carsten Brosda, war es noch nie. In der Zeit von Frau von Welck hatten wir das Gefühl, dass Film nicht als Kunst angesehen wird. Ich glaube, wir entsprachen nicht ihrem Kulturbild, und das war sehr frustrierend. Ein Quantensprung war es dann, als Barbara Kisseler kam. Das war wirklich großartig. Seitdem unterstützt uns die Stadt nach Kräften, auch wenn das Filmfest weiterhin unterfinanziert ist. München bekommt eine Zuwendung von 3,4 Millionen Euro, wir von 950.000 Euro. Da liegen Welten dazwischen, obwohl wir ansonsten Festivals von einer sehr ähnlichen Größenordnung sind. Dafür genießen wir in Hamburg große künstlerische Freiheit, niemand redet uns rein. Das ist ja nicht überall so.

Wiederspiel: „Ich freue mich irrsinnig auf das ganz normale Kinogehen“

Als wir uns 2017 vor dem damaligen Filmfest zu einem Interview trafen, erzählten Sie, Sie würden sich jedes Jahr nach dem Filmfest von Mitte Oktober bis Anfang Februar eine komplette Filmpause gönnen. Auf eine solche Pause werden Sie ja künftig verzichten können, oder?

Ja. Ich freue mich irrsinnig auf das ganz normale Kinogehen, ohne das Geratter im Hinterkopf, ob wir den Film zum Filmfest holen sollten, warum wir ihn nicht bekommen haben und so weiter.

Das Filmfest Hamburg stand in Ihrer Amtszeit immer für Kino mit Aussage und Engagement, Weltstars gab es aber nur selten auf dem roten Teppich zu sehen. Haben Sie das manchmal bedauert?

Nein, eigentlich nicht, aber natürlich sind sie für jedes Festival wichtig, sie sind gewissermaßen die Lokomotiven, die Zugpferde. Und wir hatten ja auch schon viele internationale Stars auf dem Filmfest-Teppich. Ken Loach kommt dieses Jahr zum zweiten Mal, Mads Mikkelsen wird da sein. Aus meiner Erfahrung als Filmverleiher weiß ich, dass es immer teurer wird, berühmte Gäste zum Festival zu holen. Es gibt andere Festivals, die sie mit hochdotierten Ehrenpreisen locken. Wir haben die finanziellen Mittel nicht und ich finde, unsere Gäste sollen freiwillig kommen. Na ja, und manche Stars sind ja auch nicht immer einfach. Ich war ja 17 Jahre lang Filmverleiher, bevor ich zum Filmfest kam und hatte eigentlich nur mit Stars zu tun. Da gab es mal ein lang nachwirkendes Erlebnis: Für die Fox habe ich 1990 die Komödie „Kevin allein zu Haus“ herausgebracht, und der zehn Jahre alte Hauptdarsteller Macaulay Culkin war bei seinem Besuch in Hamburg nicht besonders gut drauf und musste von mir die ganze Zeit bei Laune gehalten werden, damit er die verabredeten Interviews macht. Da dachte ich: Was ist das für ein Beruf, bei dem ich als erwachsener Mann von den Launen eines Zehnjährigen abhängig bin? In dem Moment wusste ich, dass ich den Job wechseln muss. Insofern macht es mir nicht viel aus, beim Filmfest Hamburg nicht ständig von Stars umgeben gewesen zu sein.

Filmfest Hamburg: „Die Coronajahre waren wirklich schlimm, ein Horror“

Hatten Sie Sorge, dass die Corona-Pandemie dem Kino und auch dem Festival dauerhaft Schaden zufügen konnte?

Das nicht, aber die Coronajahre waren wirklich schlimm, ein Horror. Vor allem 2020, da hatten wir nur drei Gäste, die ihre Filme präsentierten. 2021 war schon etwas besser, aber auch da gab es ja noch längst nicht wieder die vollen Saalkapazitäten. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Festivalleiter als leere Säle.

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Welchen Ratschlag haben Sie für Ihre Nachfolgerin Malika Rabahallah?

Tue nichts, nur um zu gefallen. Das geht immer schief. Man muss sich selbst treu bleiben. Aber wie ich sie kenne, wird das für sie kein Problem sein. So warmherzig und begeisterungsfähig wie sie ist, ist sie für das Filmfest Hamburg genau die Richtige.

Malika Rabahallah übernimmt die Filmfest-Leitung von Albert Wiederspiel.
Malika Rabahallah übernimmt die Filmfest-Leitung von Albert Wiederspiel. © Jasper Ehrich | Jasper Ehrich

Und wie geht es nun mit Ihnen weiter?

Ich werde im November 63, gehe dann in Rente und finde das gut. Man sollte das nach Möglichkeit so früh tun, dass man sich noch ein neues Leben aufbauen kann. In den vergangenen Jahren habe ich sehr viel Flüchtlingsarbeit gemacht, mich vor allem für politisch verfolgte Künstler engagiert. Das kann ich nun noch intensiver tun. Außerdem habe ich mehr Zeit zum Lesen und um ins Theater zu gehen. Mein Mann Gustav und ich ziehen nach Berlin, behalten aber eine kleine Wohnung in Hamburg, auch weil Gustav hier sicher weiter arbeiten wird. Ich glaube im Übrigen, dass es für meine Nachfolgerin Malika Rabahallah viel leichter ist, wenn ich hier in Hamburg nicht weiter rumtanze. Als ich damals das Filmfest übernahm, blieb mein Vorgänger Josef Wutz zwar in der Stadt, hielt sich aber sehr fern, wofür ich ihm dankbar bin. Ich habe das Festival jetzt so lange gemacht; wenn ich in der Stadt bleibe, werden viele Leute denken, dass ich weiterhin ihr Ansprechpartner bin, aber das bin ich ja nicht.

Alle Infos zum Filmfest Hamburg: filmfesthamburg.de