Hamburg. Es brodelt in der Musikszene: Der Streamingriese hat nun ein System, das Stars begünstigt. Verein RockCity Hamburg ist alarmiert.
Das Brodeln und der Frust sind deutlich zu spüren in der Hamburger Musikszene. Beim Konzert ihrer Indierock-Band August August im Kiezclub Häkken setzte die Hamburger Musikerin Kathrin Ost jüngst zu einer passionierten Rede an. Ein Teil ihrer Wut richtete sich gegen den Streaming-Anbieter Spotify und seine neuen Vergütungsregeln, die seit dem 1. Januar gelten. Für die Songschreiberin, Sängerin und Bassistin vor allem ein Affront gegen die unabhängige Musikszene jenseits des Mainstreams.
Zwar stiegen die Abrufzahlen von Musik über Streamingdienste im deutschen Musikmarkt von knapp 191 Milliarden Streams im Jahr 2022 um 11,6 Prozent auf 212,7 Millionen in 2023, wie das Marktforschungsinstitut GfK Entertainment gemeinsam mit dem Bundesverband Musikindustrie jetzt mitteilte. Und in der Auswertung hieß es zudem, dass aktuelle Acts aus Deutschland wie Nina Chuba, Ayliva, Luciano, Hamburgs Ehrenbürger Udo Lindenberg und sein Kompagnon Apache 207 besonders gut abschneiden. Doch derartige Erfolgsmeldungen sind keineswegs für die gesamte hiesige Popbranche ein Grund zum Jubeln. Vielmehr intensiviert Marktführer Spotify nun ein System, dass die Spitzenreiter begünstigt.
Spotify: Vergütung nur noch für Songs, die mehr als 1000 Mal im Jahr gestreamt wurden
Künftig werden nur noch Songs vergütet, die mehr als 1000 Mal im Jahr gestreamt wurden. So entstehe laut Spotify ein Topf von rund 40 Millionen Dollar, der dann an entsprechend streamingstärkere Acts ausgeschüttet wird. Zwar werden nach diesem neuen Schema auch viele von künstlicher Intelligenz gefertigte Hintergrundgeräusche, sogenannte White Noises, aus der Vergütung aussortiert. Doch zugleich werden eben besonders unbekanntere Bands sowie Newcomer benachteiligt.
Der Verein RockCity Hamburg, der die Musikerinnen und Musiker der Hansestadt vertritt, ist aufgrund dieser Entwicklung alarmiert: „Die ungerechte Umverteilung auf Kosten wenig gestreamter Tracks ist ein sehr schlechtes Signal für die Musikbranche“, sagt RockCity-Geschäftsführerin Andrea Rothaug. „Denn wenn der Nachwuchs mit seinen kleinen engagierten Fanbases die Mindestvergütungsgrenze nicht mehr erreicht, wird die Kluft zwischen Profi und Newby noch größer, die Entscheidung der Labels für eine Band noch risikoreicher und der Sprung in die Professionalität für Künstlerinnen und Künstler noch schwieriger, als er es aktuell sowieso ist.‟
Neue Regeln bei Spotify: Für Hamburger Indierock-Band Schrottgrenze ist Signalwirkung fatal
Auch für Saskia Lavaux, Sängerin und Gitarristin der Hamburger Indierock-Band Schrottgrenze, ist die Signalwirkung fatal. „Für ‚kleine‘ Bands und Musiker*innen heißt das übersetzt: Eure Musik ist sowieso irrelevant, strengt euch mehr an oder ihr geht leer aus.“ Die Band, die vom Hurricane bis zum Deichbrand Festival und vom Uebel & Gefährlich bis zum Hafenklang eine starke Live-Präsenz hat, ist mit den Songs ihrer bisher zehn veröffentlichten Alben bei Spotify mit monatlich gut 27.000 Hörerinnen und Hörern gelistet.
Saskia Lavaux kritisiert den Anbieter aber noch aus einem weiteren Grund: „Spotify bietet auch rechtsextremen Acts und Podcasts eine unregulierte Plattform. Auch daher wäre es längst an der Zeit den Streamingdienst nicht mehr zu nutzen.“ Eine fairere Entlohnung sieht die Künstlerin bei Plattformen wie Tidal, die verstärkt mit Nachwuchsförderung werben. Oder auch bei Bandcamp, wo sich Musikschaffende direkt unterstützen lassen. Denn bisher ist es eben nicht so, dass die Abo-Gebühren beim Streaming prozentual auf die gehörten Songs umgerechnet werden. Hinzu kommt ein immer undurchsichtiger werdender Mechanismus, welche Songs es auf die hoch frequentierten und daher heiß begehrten Playlisten schaffen.
Spotify: RockCity wertet den eingeschlagenen Kurs als Bedrohung für die kulturelle Vielfalt
RockCity wertet den von Spotify eingeschlagenen Kurs als Bedrohung für die kulturelle Vielfalt. Diese Haltung zieht sich bis hinein ins EU-Parlament, das nun eine Resolution vorgelegt hat, um „das Ungleichgewicht bei der Verteilung der Einnahmen aus dem Musik-Streaming-Markt zu beseitigen“. Ein Gesetz soll die kaum zu durchblickenden Algorithmen, die den digitalen Musikkonsum steuern, künftig gerechter gestalten. Wie erfolgreich das sein wird? Zukunftsmusik.
Auch RockCity mahnt mangelnde Transparenz an: „Die zu erreichenden 1000 Streams werden an eine geheime Zahl von Mindesthörenden gekoppelt, wodurch kleine Acts massiv schlechter gestellt werden.“ Es geht auch und vor allem um Wertschätzung für Kultur und Musik nach den kräftezehrenden Pandemie-Jahren sowie inmitten einer Kostenexplosion im Konzertgeschäft.
Hamburger Musikerin Miu: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Musik weiter entwertet wird“
Auf diesen Zusammenhang macht auch die Hamburger Musikerin Miu aufmerksam, die als Vorstandsvorsitzende des Verbands Pro Musik bereits im Dezember 2023 eine Petition gegen die Spotify-Pläne gestartet hat: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Musik weiter entwertet wird, weil das eine ganze Kette in der Wertschöpfung von Musikschaffenden beeinflusst“, sagte sie dem NDR. Und weiter: „Wenn ich mit Streaming nichts verdiene, dann muss ich mehr live spielen – der Live-Sektor hat sich aber seit Corona sehr verändert, Touren ist sehr viel teurer geworden.“
Fabian Huch, Manager der aufstrebenden Hamburger Indierock-Musikerin Brockhoff, sieht auch eine Wechselwirkung zwischen aktuellen Streaming-Modellen und dem zunehmenden Club-Sterben in Hamburg und Deutschland: Es sei auf allen Ebenen eine zunehmende Schere zwischen Arm und Reich zu spüren, erklärt er – und sieht die Musikbranche dabei als Spiegelbild einer gesamtgesellschaftlichen Situation. Festivals in Clubs, Slots im Vorprogramm oder auch eigene kleine Clubshows bieten seiner Ansicht nach eine wichtige Grundlage, damit Musikfans neue Bands überhaupt erst entdecken und deren Musik dann im Anschluss bei ihrem favorisierten Streaming-Anbieter regelmäßig hören. „Ohne die Astra Stube oder das Molotow werden viele junge Bands aus Hamburg auch nicht mehr die 1000-Streaming-Klicks erzielen und gleichzeitig keine Auftrittserfahrung sammeln können, die sie auch besser werden lässt“, erläutert Huch.
Spotify: Der willkürlichen und Entscheidungsmacht eines Großkonzerns ausgeliefert?
Bei Musikschaffenden, die bereits professionalisierter aufgestellt sind, die also ihre Vermarktung mit einer gewissen strategischen Stringenz vorantreiben, werde die 1000-Streams-Marke keine enormen Auswirkungen haben, meint Huch. Allerdings zeige vor allem die kurze Vorlaufzeit, mit der Spotify seine Änderungen verkündet hat, wie wenig die restliche Musikbranche bei den Entscheidungen der Streaming-Services mitzureden habe.
Zwar steht es jedem Musikschaffenden frei, Songs bei Spotify einzustellen. Allerdings betont Andrea Rothaug von RockCity: „Ein Wechsel zu bestehenden Plattformen wie zum Beispiel Tidal wäre abzuwägen. Doch solange die sozialen Funktionen und Musikempfehlungen hier noch nicht so ausgereift sind, entscheiden sich die meisten trotz besserer Soundqualität vermutlich für den Riesen Spotify.“
Dem Gefühl, der willkürlichen und anonymisierten Entscheidungsmacht eines Großkonzerns ausgeliefert zu sein, wirken die vielen kleinen und mittelgroßen Hamburger Plattenfirmen entgegen, die sich nach wie vor beherzt und individuell für ihre Musikerinnen und Musiker einsetzen. Wie etwa die Firma Backseat, die als Label und PR-Agentur aktiv ist. Nach Meinung von Mitbetreiber Sebastian Król werde nun „ein ohnehin unfaires Vergütungsmodell noch unfairer“.
Musiker auf Spotify: „Im Durchschnitt kommen wir bei null raus“
„Schon jetzt reichen die Spotify-Einnahmen nur für die wenigsten unserer Bands aus, um damit ernsthaft kalkulieren zu können“, erklärt Król. Und auch bei erfolgreichen Gruppen der Firma geht die Rechnung kaum auf. Die Schweizer Indie-Band Black Sea Dahu, die bei Backseat im PR-Bereich unter Vertrag ist, hat jüngst im „Tages-Anzeiger“ ihre Löhne offengelegt. Über digitale Kanäle mit Downloads und Millionen von Streams nimmt das Quintett jährlich gut 60.000 Euro ein. Geteilt durch fünf klingt diese Summe allerdings schon nicht mehr ganz so stattlich.
Die Band rechnet zudem die exorbitant gestiegenen Kosten für Touren und Liveauftritte vor – bei dem gleichzeitigen Versuch, auch Management und Crew anständig zu bezahlen. 92 Konzerte hat Black Sea Dahu 2023 in ganz Europa gespielt, darunter auch im Hamburger Knust. Das Fazit: „Viele denken, Erfolg bringe das große Geld. Im Durchschnitt kommen wir bei null raus. Immer wieder legen wir drauf“, erklärt Sängerin und Songschreiberin Janine Cathrein.
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Labelchef Król setzt auf alternative Finanzierungsmodelle. „Zumal wenn aufgrund knapper Haushalte auch immer weniger mit öffentlichen Geldern zu rechnen ist.“ Für ihn liegt die Zukunft in der direkten Unterstützung durch die Fans: In der von Backseat mitbegründeten App „Fanklub“ lässt sich etwa die eigene Lieblingsband über eine bezahlte Mitgliedschaft fördern. Im Gegenzug erhält die Community dann Gästelistenplätze und exklusive Inhalte. Indie-Bands wie Black Sea Dahu profitieren bereits davon, erläutert Król: „Von mehr als 500 Fans werden bereits rund 2000 Euro pro Monat ausgeschüttet.“ Ein „musikalisches Grundeinkommen“, das zielgerichteter ankommt als ein Streaming-Abo.