Hamburg. Die Premiere des Bestsellers von Bernhard Schlink thematisiert Schuld und Vergangenheitsbewältigung und begeistert mit Ensemble.
Bis zu 100.000 Menschen sind in Hamburg am Sonntag gegen Neonazis, Rassisten, Antisemiten und Demokratieverächter auf die Straße gegangen. Unter Hunderten von Schildern und Plakaten gegen die AfD gab es eines mit der Aufschrift „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie ein Geschichtsbuch oder fragen Sie Oma und Opa“. Bernhard Schlinks „Der Vorleser“, 1995 erschienen und in mehr als 50 Sprachen übersetzt, ist zwar ein Roman und kein Geschichtsbuch, aber auch dieses Buch wirft einen Blick zurück auf das unmenschliche nationalsozialistische System und den Holocaust und ist eine spannende Auseinandersetzung mit menschlicher Schuld und Vergangenheitsbewältigung.
Axel Schneider, Intendant des Altonaer Theaters, wollte den Stoff bereits vor 15 Jahren auf die Bühne bringen, erhielt allerdings nie die Genehmigung des Diogenes-Verlages für seine Fassung. Jetzt endlich feiert „Der Vorleser“ eine überaus gelungene Premiere in einer Bühnenfassung von Mirjam Neidhart, die sie als Regisseurin in Esslingen inszeniert hat.
„Der Vorleser“ im Altonaer Theater: Kai Hufnagel bringt intime Nacktszene auf die Bühne
In Altona hat der Schauspieler und Regisseur Kai Hufnagel die Aufgabe übernommen, den schwierigen Stoff auf die Bühne zu bringen und starke Bilder dafür zu finden. Hufnagel hat dort vor ein paar Monaten „ZOV“, den von Demonstrationen vor dem Theater begleiteten Monolog eines russischen Ex-Soldaten, im Café Oelsner in Szene gesetzt. Den Soldaten spielte damals Tobias Dürr, der jetzt auch wieder mit dabei ist. Im Zentrum des „Vorlesers“ stehen jedoch Johan Richter und Anjorka Strechel.
Richter ist der „Vorleser“, ein 15 Jahre alter Junge, der durch einen Zufall die 21 Jahre ältere Hanna (Strechel) kennenlernt. Sie hilft ihm bei einem Gelbfieberanfall auf der Straße, er dankt ihr später mit Blumen, verliebt sich in die Frau und führt mit ihr über mehrere Monate eine sexuelle Beziehung, bis sie plötzlich verschwindet. Die Nachmittage in Hannas Wohnung laufen immer nach demselben Ritual ab: vorlesen – duschen – lieben – beieinanderliegen.
Es ist beeindruckend, wie überzeugend Johan Richter den Teenager Michael Berg spielt – seine Unsicherheit, seine Gefühlsverwirrungen, seine überbordende Liebe und später seine abgrundtiefe Verzweiflung, nachdem Hanna ihre Wohnung aufgegeben hat. Anjorka Strechels Hanna ist dagegen eine überlegene Frau. Sie tituliert den Geliebten als „Jungchen“, kommandiert ihn herum und bestimmt jedes Detail der Beziehung. Als Michael einmal kurz ein Hotelzimmer verlässt, in das sie sich als Mutter und Sohn eingeschrieben haben, rastet Hanna aus und schlägt ihn mit einem Ledergürtel mitten ins Gesicht. Mutig ist auch eine intime Nacktszene zwischen den beiden Schauspielern, die sich vor dieser Produktion nicht kannten. Richter und Strechel gelingt es, eine Nähe herzustellen, wie sie Schlink in seinem Roman beschrieben hat.
„Der Vorleser“ in Altona: Für die brutale Selektion in den Lagern muss niemand lesen können
Umso größer ist die Distanz zwischen beiden Protagonisten im zweiten Teil der Inszenierung. In dem sitzt Hanna Schmitz auf der Anklagebank in einem Nazi-Prozess. Sie war Aufseherin im KZ Auschwitz und hat später als SS-Angehörige einen der sogenannten „Todesmärsche“ beaufsichtigt, bei denen KZ-Insassen nach Auflösung der Lager tausendfach gestorben sind oder, wie von Schlink beschrieben, in einer bombardierten Kirche bei lebendigem Leibe verbrannten. Weil das Wachpersonal die Türen verschlossen hielt. Michael Berg nimmt an dem Prozess als junger Jura-Student teil. Er ist erschüttert von der Anklage, und ihm wird klar, warum er Hanna vorlesen musste: Sie ist Analphabetin, verließ aus Scham darüber Arbeitsstellen und kam so zur SS. Für die brutale Selektion in den Lagern muss niemand lesen können.
Schlinks Roman wird aus der Retrospektive von dem älteren Michael Berg erzählt. Hufnagel hat diese Rolle in einen dreiköpfigen Chor mit Tobias Dürr, Franziska Schulte und Sina-Marie Gerhardt aufgesplittet. Eine kluge Entscheidung, denn dieses exzellente und sprachgewandte Trio wechselt schnell in verschiedene Nebenrollen und hält das Tempo der knapp zweieinhalbstündigen Inszenierung hoch. Die drei sind Michaels Familienmitglieder, Angeklagte, Staatsanwältin, Richter und bilden einen Chor, der immer wieder Passagen aus Homers „Odyssee“ liest. Das griechische Epos mit dem herumirrenden Helden verweist auf Michael Bergs Versuch, aus der eigenen Verwirrung herauszufinden.
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Auch Ulrike Engelhardts Bühne passt perfekt zu dieser begeistert aufgenommenen Inszenierung. Drei rote Tische verwandeln sich mit wenigen Handgriffen in ein Bett oder einen Sichtschutz. Ein riesiges Tuch symbolisiert Odysseus‘ Segel und dient später als Duschvorhang und Leichentuch. Auf eine überdimensionale Videoansicht von Strechels Gesicht während ihres Prozesses muss das Premierenpublikum wegen eines technischen Defekts zwar verzichten, aber das ist die einzige Unzulänglichkeit in einem Drama, das sehr ernsthaft die Frage von Schuld und Vergebung verhandelt. „Der Vorleser“ ist gerade das richtige Stück zur
Zeit und ein literarisches Beispiel für das „nie wieder“.
„Der Vorleser“läuft bis zum 2. März am Altonaer Theater, Karten unter T. 040/39 90 58 70, www.altonaer-theater.de