Hamburg. Der Lette dirigiert das Gewandhausorchester in der Elbphilharmonie. Ein Gespräch über die Liebe zur Orchestermusik und Richard Wagner.
Andris Nelsons ist offenbar gern der Mann für die großen Brocken. Andere wären damit zufrieden, entweder Chef beim Gewandhausorchester in Leipzig oder beim Boston Symphony Orchestra zu sein. Nelsons ist beides, schon seit mehreren Jahren und obwohl er, wohlwollend ausgedrückt, nicht allzu gern fliegt. Pünktlich zum Bruckner-Jubiläumsjahr 2024 hat er einen Aufnahme-Zyklus der Sinfonien mit Leipzig, kombiniert mit etwas Wagner, vollendet, nebenbei und außerdem machte er sich mit den Bostonern an Schostakowitschs Sinfonien. Ende Februar ist der vielbeschäftigte Lette mit „seinen“ Leipzigern und zwei Tschaikowsky-Programmen zu Gast in der Elbphilharmonie.
Hamburger Abendblatt: Ihr O-Ton: „Ich bin immer voller Musik.“ Wie fühlt sich das an? Ein Dauer-Hoch von dieser Droge oder eine ständige Suche nach dem nächsten High? Es muss toll und schrecklich gleich sein: Sie denken ständig ja nur an Ihre Arbeit.
Andris Nelsons: Zu Drogen und der damit verbundenen Sucht kann ich nichts sagen, weil ich davon nichts weiß. Ich bin ständig in Verbindung mit der Musik – proben, Konzerte geben, studieren, nachdenken. Das fühlt sich wunderbar an. Es ist aber auch eine ununterbrochene Entwicklung. Man sucht nach Antworten, und die sind immer sehr subjektiv.
Andris Nelsons: „Mir ist klar, wie viele Fragen ich noch nicht beantwortet habe“
Welches Gefühl wuchs während Ihrer Karriere schneller, das Selbstvertrauen oder der Selbstzweifel?
Mir ist klar, wie viele Fragen ich noch nicht beantwortet habe. Steht man vor einem großen Orchester, haben alle Erwartungen. Man darf die entscheidenden Dinge weder stören noch verderben. Wir sind auf einer gemeinsamen Reise unterwegs.
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Wenn Sie sich auf ein Konzert vorbereiten, sagen wir: Schostakowitsch, sehr komplexes Leben, genügt Ihnen ganz praktisch, was als Notentext in der Partitur steht oder graben Sie sich bei ihm und jedem anderen Komponisten durch alles, was Sie über ihn finden können?
Seine Musik liebe ich! Es ist wohl eine Kombination: Ich lese viel, und sich viele Aufnahmen anzuhören, ist ebenso Teil der Vorbereitung. Dann genügt mir die Partitur, meinen eigenen Weg zu gehen. Und wenn dieser Lernprozess des Studierens und Lernens ernsthaft, gründlich und ehrlich ist, glaube ich nicht, dass man irgendetwas kopieren wird.
Drei kurze Entweder-oder-Fragen: Welcher Komponist ist näher an Ihrem Herzen, Strauss oder Wagner?
(überlegt lang). Ich liebe beide… Wagner.
Tschaikowsky oder Schostakowitsch?
Schostakowitsch.
Beethoven oder Brahms?
Beethoven.
Warum?
Ohne Beethoven hätte Brahms nicht existiert und nicht so komponiert, wie er es tat. Wobei ich es liebe, wie Brahms zu uns sagt: Es ist schon ok, dass das Leben manchmal schwierig ist; es so zu akzeptieren und damit zufrieden zu sein. Seine Musik sagt: Ist schon ok, mach dir keine Sorgen, hab‘ keine Angst vor dem Tod. Diese Musik umarmt einen. Selbst Mahlers Neunte spricht nicht auf diese Weise zu mir.
Andris Nelsons: „Natürlich liebe ich Oper, Wagner… aber Orchestermusik ist irgendwie ehrlicher.“
Gibt es irgendetwas in Ihrem Beruf, abgesehen vom Fliegen, dass Sie wirklich hassen?
Im Job etwas hassen? Nein. Aber ich hasse Arroganz, egal, ob Menschen ihre Arroganz durch Musik ausdrücken oder auf andere Weise.
Was ist für Ihr Orchester in Boston typisch, und was für Ihr Orchester in Leipzig? Sind das nur verschiedene Klangfarben oder schon zwei eigene Universen?
Mir geht es immer um die menschliche Verbindung zu Orchestern, egal wo. Die Werte und die Qualitäten können an unterschiedlichen Orten gleich sein, aber für mich ist das Lernen von den jeweiligen Traditionen, von der jeweiligen Vergangenheit wichtig.
Was wäre für Sie schmerzvoller: ein Leben ohne Opern oder ohne symphonische Musik?
An diesem Punkt meines Lebens: ohne symphonische Musik. Natürlich liebe ich Oper, Wagner… aber Orchestermusik ist irgendwie ehrlicher. Beschäftigt man als Sänger sich mit Oper, ist das sehr verlockend, es ist sehr einfach, dort menschliche Qualitäten einzubüßen. Und nur in den seltensten Fällen ist eine Opernproduktion wirklich durch und durch zufriedenstellend – Dinge sind oft entweder zu laut, zu schnell oder zu langsam. In der symphonischen Musik verwendet man diese Begriffe so gut wie nicht. Klar, Tempi sind wichtig, Rhythmus und Dynamik. Aber die treiben die großen, genialen Kunstwerke nicht an.
Bei den Festspielen in Bayreuth dirigieren? „Zwischen vielleicht und ja“
Sie stehen regelmäßig vor allen großen Orchestern der Welt, und deswegen unter entsprechender Beobachtung. Wäre es nicht auch mal ganz schön, ein kleineres, weniger bekanntes Orchester zu leiten, mit weniger Druck? Oder würden Sie nach einem missglückten Abend so oder so frustriert gegen einen Tisch in Ihrer Garderobe treten, egal, ob in Herford oder in der Berliner Philharmonie? Ehrgeiz und Druck sind immer gleich groß?
Ich glaube schon, dass der Druck immer gleich ist. Als Dirigent ist man immer Partner des Orchesters. Er kommt und löst alle Probleme? Das können wir nur gemeinsam schaffen. Egal ob Boston oder Leipzig, Berlin oder Wien – man baut Beziehungen zu den Orchestermitgliedern auf, kennt sich immer besser. Man wird zu einem Team.
Im vergangenen Sommer war ich bei den Bayreuther Festspielen, „Parsifal“ – die Oper, für die Sie 2016 eingeplant waren, bis Ihnen angeblich Christian Thielemann bei Proben dazwischengekommen sein soll. Im Festspielhaus-Orchestergraben waren Sie seitdem nicht mehr aktiv, haben aber Konzerte in Bayreuth dirigiert. Wie steht es mit 2026, dem großen Jubiläumsjahr? Sind Sie dann wieder mit Oper dabei?
Einer der Komponisten, die ich schon als Kind geliebt habe, ist Wagner. 2026 ist ein wichtiges Jahr. Aber im Moment kann ich noch nichts Konkretes dazu sagen.
Dann mache ich es Ihnen mal ganz einfach. Werde ich Sie dort 2026 hören: ja, nein, vielleicht?
Vielleicht. Es hat nichts mit irgendeinem meiner Kollegen zu tun, die ich bewundere, sondern einzig mit meiner Verfügbarkeit. Zwei Orchester, das funktioniert ganz gut. Aber Tanglewood und Tourneen im August – das macht es schwer, im Kalender auch noch eine Produktion in Bayreuth unterzubringen.
Nelsons-Konzerte in der Elbphilharmonie: 26./27.2. Gewandhausorchester Leipzig, mit Leonidas Kavakos (Geige) am 26.2., Karten unter elbphilharmonie.de. Aktuelle Aufnahmen: Bruckner/Wagner „Symphonien/Orchestermusik“ mit dem Gewandhausorchester Leipzig (DG, 10 CDs, ca. 47 Euro). Schostakowitsch: Sinfonien Nr. 2, 3, 12, 13. Boston Symphony Orchestra (DG, 3 CDs, ca. 30 Euro)