Hamburg. Weltstar spielte mit dem Boston Symphony Orchestra John Williams’ Violinkonzert. Prokofjews Fünfte wirkte da wie ein Trostpreis.

Mit 60 kann man es sich auch mal etwas schön machen im anstrengenden Leben eines Klassik-Weltstars, das ansonsten ständig von Terminzwängen, Flugplänen und schnöden Pflichten umzingelt ist. Dass etliche Komponistinnen und Komponisten halbwegs entbehrliche Körperteile dafür geben würden, ein viersätziges Violinkonzert für Anne-Sophie Mutter zu schreiben, ist selbstverständlich. Nicht selbstverständlich, dafür aber eine echte, gegenseitige Herzensangelegenheit war es für sie, sich mit John Williams – DEM John Williams, bekannt aus dem Blockbuster-Popcorn-Kino des vergangenen halben Jahrhunderts – zusammenzutun.

Sie hat ihn immer wieder, auch mit Lebkuchen-Paketen aus Germany, dezent motiviert, bis am Ende ein maßgeschneidertes Bravour-Stück stand, das nun durch und durch ihr gehört. Ein Solitär, der sowohl nach Mutters Charakter als auch nach Williams‘ schnell erkennbarer Handschrift klingt und der keine Leinwand als Existenz-Rechtfertigung im Konzertsaal benötigt. Wie groß dieses ganz persönliche Vergnügen für sie, ein Kind der ersten „Star Wars“-Generation, war, ließ sich beim Auftritt in der Elbphilharmonie mühelos von Mutters Gesicht ablesen.

Elbphilharmonie: Ganz großes Ohrenkino mit Anne-Sophie Mutter

Ein von Williams dirigiertes Konzert mit eigenen Klassikern in diesem Saal wird wohl ein Traum bleiben, der Mann ist inzwischen ja keine 90 mehr, und die Wiener Philharmoniker plus Musikverein waren 2020 für dieses Ansinnen verführerischer gewesen. Doch bei der ersten Post-Corona-Europa-Tournee mit dem Boston Symphony, dem Williams seit Jahrzehnten freundschaftlichst verbunden ist, kam dieses Opus mit ins Reisegepäck, mit dem BSO-Chefdirigenten Andris Nelsons als ausführendem Orchester-Kümmerer. Wenn schon, denn schon.

Wie subtil und effektsicher Williams abgeklärt und altersmild eine poetische Klanglandschaft mit wenigen Takten in warmen, sparsam aufgetragenen Farben skizzieren und als einladendes Ohrenkino-Panorama ausbreiten kann, ist erstaunlich und rührend zugleich. Dass das Stück, bei aller Liebe, durchaus Haken und Ösen hat, für die es eine furchtlose Solistin braucht – geschenkt

Als Dialogpartner für diesen Konzertauftakt gab Williams der Solovioline eine Harfe zur Gesellschaft, bei Weitem nicht der einzige interessante Kontrast. Immer wieder leuchten Williams-typische Instrumenten-Konstellationen auf, das filigran arrangierte Raunen der Holzbläser, die kleinen, fein gesetzten Pathos-Prisen der Hörner, die funkelnden Akzente durch das Schlagwerk.

Elbphilharmonie: Prokofjews Fünfte wirkte wie ein nobler Trostpreis

Das Kino-Gedächtnis sucht dann sofort nach filmkompatiblen Leitmotiv-Substanzen, doch Williams umspielt diese Erwartung mit immer wieder neu und weit ausholenden, elegant fließenden Melodielinien für die Solovioline, die sich frei über den Dingen schwebend mit sich selbst unterhält. Mutter fühlt sich so was von wohl und gut verstanden in dieser Tonsprache, diese Harmonie übertrug sich bis tief ins Orchester.

Und Nelsons hätte sich zwischendurch einen Kaffee aus der Backstage-Cafeteria aufs Dirigentenpult holen können, so wenig war regelndes Eingreifen vonnöten. Der „Epilogue“ endete mit behutsamem Ausklingen ins Nichts, die Stille danach war gewissermaßen schon der erste Beifall.

Nach dem zweiten konnte es nur Williams als Zugabe sein: Mutter amüsierte sich auch noch durch „Hedwig’s Theme“ aus dem „Harry Potter“-Kosmos und „Helena’s Theme“ aus dem letzten „Indiana Jones“-Abenteuer.

Als Schostakowitsch-Versteher in der klarsichtigen Tradition von Mariss Jansons ist Nelsons bekannt; von ihm stattdessen Prokofjews Fünfte zu hören zu bekommen wirkte, bei aller Hochachtung für die Luxusklasse des BSO, wie ein sehr hochwertiger Trostpreis. Schwelgen in der großen Form ohne Hintergedanken, wie Schostakowitsch, aber ohne dessen doppelte Böden, das Déjà-vu-Gefühl, sich in ein Repertoire-Paralleluniversum verirrt zu haben, weil vieles in dieser Sinfonie so sehr an Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballettmusik erinnert.

Eine hochglanzpolierte Wiedergabe, mit punktgenau gesetzten Großartigkeiten und Gefühl für das Inszenieren von Dramatik und Show-Effekten. Und dennoch, oder besser: deswegen auf sehr hohem Niveau unbefriedigend.

Das BSO gibt am heutigen Donnerstag, 20 Uhr, ein zweites Elbphilharmonie-Konzert mit Werken von Simons, Strawinsky, Gershwin und Ravel, Solist: Jean-Yves Thibaudet (Klavier). 11.9.: Anne-Sophie Mutter & Mutter’s Virtuosi mit Werken von Vivaldi, Bach und Previn. Evtl. Restkarten. Am 27.10. erscheint eine Gesamteinspielung der Bruckner-Sinfonien mit dem Gewandhausorchester (DG, 10 CDs, ca. 46 Euro), im Februar folgen zwei Konzerte in der Elbphilharmonie.Aktuelle CD: Williams „Violin Concerto No. 2 & Selected Film Themes“ Boston Symphony Orchestra, John Williams (Dirigent) (DG, CD ca. 16 Euro).