Hamburg. Ein Künstler ohne Publikum und seine sexuell frustrierte Frau: Nathan Hill erzählt komisch von der Gegenwart. Helfen Liebespillen?
Im Jahr 2016 war es, als der bis dahin vor allem hierzulande unbekannte amerikanische Schriftsteller Nathan Hill nach Hamburg kam. Er stellte im Amerikazentrum in der HafenCity seinen Debütroman „Geister“ vor, der im Original den Titel „The Nix“ trägt. In dem zeichnet der Mann, der sich gleich mit seinem ambitionierten Erstling als Meister der Unterhaltsamkeit entpuppte, ein Panoramabild amerikanischer Zeitgeschichte. Im Mittelpunkt der Handlung: ein – eher harmloser – Anschlag auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten.
Wie viele Leute dürften damals am Sandtorkai gewesen sein, drei, vier Dutzend? Der Veranstaltungsort ist ja eher klein. Allen Anwesenden stand jedenfalls der Schreck ins Gesicht geschrieben. Es war der 9. November. Gerade hatten sich manche der schwierigsten Stunden der amerikanischen Demokratie zugetragen: Aus der vorletzten Präsidentschaftswahl war Donald Trump als Sieger hervorgegangen. Was der notorische Lügenbold anschließend vier Jahre lang im Weißen Haus (und danach) treiben sollte, mochten allerdings selbst die schlimmsten Pessimisten damals nicht ahnen, auch Nathan Hill nicht.
Nathan Hills Roman „Wellness“: Der Mann ist kein One-Hit-Wonder
Für einen Moment war der 1975 in Iowa geborene Neuling Hill der Autor der Stunde. Sein literarischer Wirklichkeitszugriff, das wurde damals im Amerikazentrum klar, zielt auf das große Tableau, will, natürlich, gar nichts anderes sein als die berühmte Great American Novel. Sieben Jahre später erscheint nun Nathan Hills zweiter Roman „Wellness“. Mit dem er bestätigt, dass er kein One-Hit-Wonder ist.
- Kultur Hamburg: So war 2023: Die Höhe- und Tiefpunkte unseres Kulturjahres
- Ildikó von Kürthy: „Brüste und Po waren nie mein Unique Selling Point“
- Literaturhaus Hamburg: Cassens-Preis für Buch über jüdisches Leben
Mindestens. Vielleicht kann man Hill, der so ausufernd und üppig wie Jonathan Franzen, John Irving und Donna Tartt erzählt, dabei vermutlich noch mehr Humor besitzt, aber auch den „Neuerer des Liebesromans“ nennen. Als jemand, der schmerzhaft ausführlich und immer wieder irre komisch von der Ehe und ihren Fallstricken erzählt. Im Mittelpunkt des mehr als 700 Seiten starken Buchs stehen Elizabeth und Jack, die um die 40 sind und einen Sohn (das Kind mit Eigenschaften: Game-süchtig, Impulskontrolle mangelhaft, sozial bedingt anschlussfähig) großziehen. Sie haben sich in einem heruntergekommenen Viertel Chicagos kennengelernt, im Wicker Park der 1990er-Jahre. Vor der Gentrifizierung.
Neuer Roman „Wellness“: Die Tyrannei des Internets als Thema
Die spielt in „Wellness“ eine gewisse Rolle, einem Roman, der an Themen reich ist und dabei seinen Leserinnen und Lesern, ob sie in den Szenequartieren nordamerikanischer Städte, ob sie im Karolinenviertel, in Schwabing oder Prenzlauer Berg leben, ironisch den Spiegel vorhält. Angesiedelt ist der Roman hauptsächlich im Jahr 2014, also einer Zeit, die der unsrigen noch sehr ähnelt. Selbstoptimierung und die Tyrannei des Internets sind zwei der Themen, die Hill einer so hellsichtigen wie humoristischen Prüfung unterzieht.
Aber die Zeitdiagnostik dient vor allem, um Hills Schattengemälde der Ehe weitere Konturen zu geben. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Jack ist ein frühvollendeter Künstler, der genau einmal in der Lokalpresse stattfand – der Höhepunkt seiner Laufbahn. An der Kunsthochschule hat er als Dozent sein Auskommen, freilich als selbstreferenzieller Produzent randständiger Kunst, die niemanden interessiert. Zu seinem Pech können Algorithmen neuerdings jeden finanziellen Wert errechnen. Auch den eines Lehrenden.
„Wellness“ ist auch ein Buch über den Kapitalismus; kann gar nicht anders sein, es handelt ja von Amerika und der westlichen Welt. Von deren Scheußlichkeiten berichtet die Ahnentafel Elizabeths. Deren Vorfahren wurden als Eisenbahn- und Textilunternehmer, im Falle ihres Vaters als moralisch fragwürdiger Investor stinkreich. Von diesem Geld will die hochbegabte Psychologiestudentin Elizabeth, eine typische Vertreterin der Generation X, allerdings nichts wissen.
Beide sind ihrer jeweiligen Herkunft entflohen, haben sich in der Großstadt Chicago selbst zu „Waisen“ gemacht, wie es der Erzähler formuliert. Ihren Vorgeschichten gibt er übrigens viel Raum, was wiederum die Möglichkeit beinhaltet, noch mehr Themen in den Roman zu inkorporieren. Landschaftsmalerei beispielsweise, Pornografie (Jack ist eifriger User) oder die saisonale Brandrodung der Agrarbetriebe des Mittleren Westens. Es ist bemerkenswert, wie souverän Hill sein Werk arrangiert. Es fächert sich auf verschiedene Zeitebenen auf, verliert seinen Fokus dabei aber nie. Es geht um zwei Menschen, die sich zufällig fanden und als Einzelwesen den Prägungen unterliegen, die aus ihrer Kindheit stammen. Wem dieses Werk, das zu einem nicht geringen Teil aus Dialogen besteht, dabei zu gefällig daherkommt, dem sei gesagt: Entertainment ist nichts Schlechtes.
Neuer Roman „Wellness“: Ein Pageturner für Leser in der Mittellebenskrise
Vor allem wenn es in solch eine vielschichtige Erzählung mündet, die gleichzeitig mit viel Aufwand betrieben wird und doch bisweilen geradezu anstrengungslos wirkt. „Wellness“ ist ein geschickt angelegter Pageturner. Er spricht buchstäblich alle an, die sich in der Lebensspanne des mittleren Alters befinden oder sich noch gut daran erinnern, wie es war, als man kleine Kinder großzog und das romantische Leben den Bach runterging.
In einem der köstlichsten und besten Kapitel des Buchs sind Jack und Elizabeth bei einem Swinger-Treffen. Sie werden von Kate und Kyle, die sie zu den potenziellen sexuellen Vergnügungen eingeladen haben, getrennt voneinander in tiefsinnige Gespräche gezogen, um sie verbal zu stimulieren. Das Gegenteil tritt ein: Die geübten Anti-Monogamisten Kate und Kyle outen die Beziehung von Elizabeth und Jack als toxisch. Und als der Blick der letzteren Beiden sich trifft, schauen sie sich an wie Wesen, bei denen man sich fragt, wie um aller Welt sie tatsächlich hatten heiraten können.
Gamechanger Vibrator? Nathan Hill erzählt von der Sehnsucht nach Veränderung
Nathan Hill ist ein gewiefter Erzähler, der Handlungsstränge nur scheinbar ablegt, um sie viel später noch einmal aufzugreifen. Elizabeth – ganz, ganz altmodisch ist sie hauptsächlich für die Erziehung des Sohns zuständig – ist die Unglückliche in der Beziehung, sie sehnt sich nach Varianzen vom Einerlei des Alltags. Dabei scheint sich, als die Gegenwartshandlung einsetzt, ihr erträumtes Schicksal zu erfüllen.
Ohne den Reichtum der Eltern kann sich die selbst erfundene Mittelschichtsrepräsentantin – auch durch einen nicht ganz einwandfreien Consulting-Job für ein Flugunternehmen – mit ihrer Familie eine im Bau befindliche Eigentumswohnung im Speckgürtel der Metropole leisten. Sie plädiert für getrennte Schlafzimmer. Jack ist dagegen, er gibt sich auch sonst große Mühe, die Ehe zu retten. Leider kommt der von ihm ins erotische Spiel gebrachte Vibrator nur dann zum Einsatz, wenn er nicht mit dabei ist.
Elizabeth erforscht beruflich die Wirkung von Placebos. Nathan Hills Diagnose des tendenziellen Unglücklichseins in traditionellen Partnerschaften mit dem gleichzeitigen Zwang, beruflich reüssieren zu müssen, kann man einige Plausibilität zugestehen. Neu ist sie nicht. Aus der Notwendigkeit, dort, wo es längst keine metaphysischen Fluchtpunkte mehr gibt, womöglich auf (Schein-)Medikamente zu setzen, macht er einen literarisch fruchtbaren Witz. Absurderweise findet die vom Konzept der Autosuggestion wissenschaftlich (und nicht persönlich) überzeugte Elizabeth in ihrer neuen Freundin Brandie unabsichtlich eine Probandin im echten Leben, an der sich die Wirkung einer angeblichen Liebespille bestätigen kann, die die aus der Balance geratene Ehen wieder ins Lot bringt.
Brandie („Das Wichtigste ist, in deiner Fantasie zu bleiben, bis sie Wirklichkeit geworden ist“) ist mit ihrer nachbarschaftlichen Peergroup längst auf die Idee verfallen, eine persönlich schönere Welt herbeizureden. Dabei steht sie beispielhaft für das Ego-Narrativ der Privilegierten. Auf keinen Fall will die bigotte Brandie, für die außerehelicher Sex Teufelswerk ist, dass das gemischte Bauprojekt, in dem auch Jack und Elizabeth eine künftige Bleibe gefunden haben, ihren Snobstadtteil abwertet. Und so zieht sie mit Gleichgesinnten gegen die geplante Immobilie zu Felde.
Nathan Hills „Wellness“ ist ein zeitloser Roman
Wie virtuos Nathan Hill die Beziehung Jacks zu seinem Vater, die schreckliche Wirklichkeit von sozialen Netzwerken und Verschwörungstheoretikern, das angemaßte Glücksversprechen der Mittelschicht und die Abschottung der Reichen im Finale dieses lesenswerten Romans miteinander verquickt, sagt einiges über sein literarisches Können. Poetisch ist an „Wellness“ jedoch gar nichts. Im Gegenteil ist dieses Sittengemälde ein Musterbeispiel dafür, wie man eine Figurenkonstellation psychologisch so schlüssig anlegen kann, dass kaum Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten bleiben – und man dies ihrem Schöpfer dennoch nie übel nimmt. Dafür ist Nathan Hills Erzählung handwerklich zu gut.
Trost für Ehegeplagte könnte es insofern geben, als sie durch Hills Versuchsanordnung den Eindruck gewinnen dürfen, dass der Irrsinn der großen Menschheitsunternehmung „Partnerschaft“ als allgemeine Angelegenheit zu betrachten ist. „Wellness“ ist also auch ein zeitloser Roman, paradoxerweise; wo er sich doch gleichzeitig durchaus erfolgreich solche Mühe gibt, ein Roman für unsere Gegenwart zu sein.