Hamburg. In der Elbphilharmonie wagten sich Teodor Currentzis und SWR Symphonieorchester an ein Experiment mit Mahlers unvollendeter Zehnter.
Diese Was-wäre-wenn-Idee ist so gewagt, fantastisch und risikobeladen, dass sie eigentlich nur auf entsprechend hohem Niveau schiefgehen konnte: Mahlers Zehnte, seine dem persönlichen Liebes-Leiden abgerungene Unvollendete, nicht aus den Fragmenten herauszuraten, sondern sie als eine Achterbahnfahrt der Gefühle in die Moderne, hinaus aus den mürbe gewordenen Resten der Spätestromantik konsequent weiterdenken zu lassen. Von vier zeitgenössischen Komponisten, für jeden im Original nur zu ahnenden Satz einen.
Noch ist der Wahlrusse Teodor Currentzis, wegen seiner konsequenten Nicht-Äußerungen zu Putin und dem Ukraine-Krieg und der Nähe zu den Finanzen und den Mächtigen in Putins System massiv umstritten, auch Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters. Mit diesem ehrgeizigen SWR-Projekt kam er nun, ein vorletztes Mal, nach Hamburg, in die „Elbphilharmonie für Kenner“-Reihe.
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Um aus den fünf Handschriften eine werden zu lassen, ließ Currentzis diese Mahler-Transformationen wie einen einzigen Erzähl-Stream of consciousness ineinander übergehen, ein weiterer cleverer Kunstgriff. Bis er sich aus der Orchestrierung des Auftakt-Adagios in die Fortschreibungen der Partitur begeben konnte, hatte Currentzis – diesmal nicht mehr im strengen Anzug, sondern wieder im kurzärmligen Streetstyle – allerdings einiges an beidarmiger Muskelarbeit zu verrichten. Die anfänglich so innige Liebe von Orchester und Chef auf Zeit füreinander, sie scheint inzwischen, mit der Trennung in Sichtweite, doch etwas abgekühlt zu sein.
Unablässig, aber nicht entsprechend ergebnisdeutlich versuchte Currentzis mit weit ausholenden Gesten, das von ihm verlangte Übermaß an Inbrunst und Intensität aus dem Tutti herauszumassieren. Was von dort zurückkam, war: sehr ordentlich, tadellos gespielt, von den glühenden Linien der Streicher bis ins gut austarierte Blech. Aber noch nicht außerordentlich oder gar überwältigend, sensationell, umwerfend.
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Interessanter und eigenwilliger wurde es ab der letzten Mahler-Bruchkante: Alexey Retinskys „La Commedia“-Passage griff das ins Nichts verklingende Adagio-Ende auf, mit Klangreibungen und sanften Farbverläufen; ein Kunst-Nebel aus Andeutungen, Musik, die Mahler nur noch versonnen im Rückspiegel betrachtete.
Auch Philippe Manourys „Rémanescences – Palimpseste“ spielte mit Erinnerungen, zitierte den berühmten Clusterakkord-Aufschrei, mit dem Mahler gegen das Schicksal anbrüllen wollte. Abstrakter, rätselhafter und experimenteller folgte Mark Andres „Echographie 4“: Eine Säge sang, Donnerbleche schufen vage Atmosphärisches, sanft flatternde Notenblätter symbolisierten unhaltbare Vergänglichkeit. Abschied, Verfall, Verwirrung überall. Ganz großes Ohrenmelodramkino.
Elbphilharmonie: Publikum begeistert von der Zumutung
Jay Schwartz‘ „Theta“ dagegen ging zum Abschluss satt in die Vollen: Wieder und wieder wuchtete er godzillagroße Glissandi aus dem Orchester, zäh aufwärtsschraubend, mühsam immer wieder Anlauf nehmend, die Dissonanz auskostend, das Gleiten von da nach dort als enorme Anstrengung. In sehr große Breiten gezogene Verzweiflung, und weil es sich als Verweis von der Zehnten auf die hineinkomponierten Schicksalsschläge in der Sechsten so unmittelbar anbot, durfte einer der SWR-Schlagzeuger auch noch zum Riesen-Hammer greifen.
Der volle Saal war zu Recht begeistert von dieser Zumutung, auch die SWR-übliche Zugabe nach einer kurzen Umbaupause fügte sich klug in das Konzept ein: das kurze „Lyrische Suite“-Streichquartett von Berg, wie so ziemlich alles von Mahler randvoll mit kunstvoll versteckten Botschaften und Noten-Rätseln.
Das Adagio aus Mahlers Zehnter wird (in einer Streicher-Fassung) bereits heute wieder in der Elbphilharmonie gespielt: von der Amsterdam Sinfonietta, dirigiert von Candida Thompson. Nächstes Currentzis-Konzert:18.5., mit seinem Utopia-Orchester und Bruckners Neunter im Rahmen des Internationalen Musikfests.