Hamburg. Erstes reguläres Philharmoniker-Konzert der neuen Saison: Besonders beeindruckend war das Vokalensemble. Prachtvoller Auftritt!
Musik kommt aus der Stille. Der Satz ist in seiner Schlichtheit erst mal eine Binsenweisheit, aber Kent Nagano nimmt ihn in einer Weise ernst, die sein ganzes Musizieren prägt. Das Programm zum ersten regulären Philharmonischen Konzert der Spielzeit – nach einer wüsten Serie von vorsaisonalen Akademiekonzerten – scheint geradewegs aus diesem Grundsatz entwickelt zu sein.
In der ersten Hälfte kann das Publikum in der Elbphilharmonie der europäischen Musik gleichsam beim Großwerden zuhören, beginnend im 12. Jahrhundert mit dem (fast völlig) einstimmigen „Alleluia, O virga mediatrix“ von Hildegard von Bingen für Chor a cappella. Wie aus dem einen romanischen Kreuzgang tönen die Frauenstimmen des Vokalensembles Lauschwerk. Wenn die Männer mit „Ex semine“ von Perotin nahtlos übernehmen, beginnen sich die Stimmen bereits zu verzweigen. Die Polyphonie – so das Fachwort für Mehrstimmigkeit – steckte im 12. und 13. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen. Der Gedanke, dass in der Musik Unterschiedliches zur selben Zeit stattfinden kann, hat ja etwas Unerhörtes.
Elbphilharmonie: Die Philharmoniker und ein Vokalensemble, das passte
Im „Kyrie“ und „Gloria“ aus der „Missa Ma maistresse“ von Johannes Ockeghem im 15. Jahrhundert ist das gesamte Vokalensemble zu hören. Besonders beeindruckend das „Domine Deus“ aus dem „Gloria“, das nur ein Tenor und ein Bass gemeinsam bestreiten. Sie sind einander Stütze und Wettbewerber, die rhythmisch raffinierten Koloraturen wechseln mühelos.
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Bei der Motette „Tu solus quis facis mirabilia“ von Josquin Desprez ist die Renaissance erreicht und mit ihr die ganze Fülle der polyphonen abendländischen Musik. Prachtvoll homogen und klar singt das Ensemble unter seinem Leiter Martin Steidler.
Die A-cappella-Werke wechseln sich ab mit Instrumentalmusik des 20. Jahrhunderts. Auch die „Fünf Stücke für Orchester“ und die „Variationen für Orchester“ von Anton Webern kommen aus der Stille, aus der Beschränkung auf das Wesentliche. Rund drei Jahrzehnte liegen zwischen den beiden Kompositionen, die Variationen sind etwas kompakter und dramatischer. Aber Miniaturen sind auch sie. Oft tragen die unterschiedlichen Instrumente nur einen Ton bei, aber er klingt dann so spezifisch, etwa ein Flattern in der Flöte, dass man das Gefühl bekommt, die eigenen Ohren säßen gleich am Körper, sodass der Ton den Umweg über Kopf und Hirn gar nicht zu nehmen braucht.
Elbphilharmonie: Nach der Pause gab es Mahler
Nach der Pause folgt Mahlers Erste. So voll die Bühne plötzlich ist, so sind doch das Reduzierte, Fragmentarische, die Selbstbeschränkung des Vorangegangenen als Reminiszenz noch im Raum. Am Anfang ist kaum mehr zu hören als Atmosphäre, sommerlich bewegte Luft in den stratosphärisch hohen Flageolett-Tönen der Geigen. Die Bläser werfen Motivteilchen ein: hier einen Vogelruf der Klarinette, dort ein kaum hörbares Grummeln der Tuba. Nagano schafft es, die Spannung eine gefühlte Viertelstunde lang pianissimo am Köcheln zu halten, bis sich der Jubel Bahn bricht.
Zauberhafte Piani spielen die Bläser. Nagano gibt dem Orchester aber auch Raum für Kontraste. Dass die vertrackten Trompetenensembles zu einem Kometenschweif verschleifen, ist nur eine Fußnote. Wichtiger sind Momente wie der im dritten Satz, wenn die Finsternis des „Bruder Jakob“-Trauermarschs allmählich der Hoffnung weicht, weil die Harfe milde Triolen in den Klang mischt und die Geigen anfangen zu singen. Da ist es zu spüren, wozu sich die Menschen an diesem Morgen versammelt haben.