Hamburg. Die Sopranistin sang mit maximalem Anspruch und gekonnt leichter Hand bei der Repertoire-Auswahl. Ein Konzert fürs Lehrbuch.

Was für ein riesiger Spaß, was für eine nervenaufreibende, wunderbare Puzzlearbeit muss es für Anna Prohaska gewesen sein, diesen Liederabend regelrecht zu komponieren, Stück für Stück ein Panorama aus Momentaufnahmen und Charakterskizzen zu formen. Als wäre er kein handelsübliches Absingen von diesem, jenem und noch was Schönem bis zur Zugabe, sondern ein kunstvoll verzierter, sich raffiniert durch die Musik-Jahrhunderte schlängelnder roter Faden. Ein Labyrinth, bei dem man anfangs nur ahnen kann, wo und wie man, deutlich klüger geworden, enden könnte.

Die Sopranistin Anna Prohaska ist für ihren kreativen Basteltrieb bei Konzeptalben und -programmen bekannt. Sie tüftelt, bis die Dramaturgie ganz und gar stimmig ist und man als Zuhörer nur staunen kann, welche Verwandtschaftsgrade und gemeinsamen Themeninteressen so zwischen dem subtilen Klangverzauberer Ravel und dem dezenten Beobachter Brahms oder dem frühbarocken Engländer Purcell und dem kauzigen Amerikaner Ives oder zwischen dem Spätromantiker Mahler und dem Realsozialisten Eisler entstehen. Und nachdem Prohaska mit ihrem Klavierbegleiter Julius Drake vor drei Jahren diesen Genüsslichkeitsparcours auf einer CD veröffentlicht hatte, kam sie nun, endlich, mit „Paradise Lost“ live und in Farbe in den Kleinen Saal der Elbphilharmonie.

Elbphilharmonie: Anna Prohaskas paradiesisch komponierter Liederabend

Das alles umspannende Leitmotiv ist nun wirklich kein kleines – der allzu leckere Apfel und was danach kam, der Verlust des Paradieses nach dem Sündenfall, das Leiden deswegen und das Arrangieren mit dem Alltag und dem Rest der Welt.

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Es begann symbolistisch verrätselt und wie ein Gedicht, mit Ravels Beschreibung von drei schönen Paradiesvögeln, die Prohaska anfangs mit kindlicher, staunender Naivität besang, bevor sie wenige Noten später in den sinnlichen Bann dieser Musik geriet.

Auch Messiaen bejubelt diese Ekstase, mit strahlendem Wunderkerzen-Feuerwerk im Klavierpart. Drake zeigte hier zum ersten Mal, wie brillant und kongenial er als Begleiter auf Augenhöhe unterstützend mitgestalten kann. In Debussys „Apparition“ ließ Prohaska sich jede Silbe des exquisiten Mallarmé-Texts („Weiße Blumen zogen Blumen aus dem Sehnen sterbender Geigen, die aufs Blau der Kronen flossen“) wie Jahrgangschampagner auf der Zunge zergehen.

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Knapp 20 Lieder und jede Menge Wendungen und Wirren später schien alles endgültig dahin, in „Diese Stadt hat mich belehrt“ aus Hanns Eislers Exilanten-Tagebuch „Hollywood-Elegien“ gab Prohaska den tief gefallenen Engel, mit Blues in der Stimme und dem erschöpft herausgestöhnten „Hölle“ als letztem Wort. Und doch war nicht alles verloren, weil George Crumbs „Wind Elegy“ den kleinen Traum vom kleinen Glück als Klavier-Hauch sanft durch den Raum wehen ließ wie damals der Regisseur Paul Thomas Anderson in „Magnolia“ eine Plastiktüte als poetisches Symbol der Zuversicht.

Was Prohaska mit wachsender Begeisterung ausbreitete, war sensationell überraschend: ein wortloses Liedchen von Strawinsky, Goethe-Vertonungen von Hugo Wolf, zweimal Schubert und, noch betrübter, eine Kostprobe aus Schumanns „Paradies und die Peri“ und, und, und …

Es wurde immer interessanter und nicht eine Note lang langweilig. Dieses Konzert gehört in das Liederabend-Lehrbuch als Beispiel dafür, wie man mit maximalem Anspruch und gekonnt leichter Hand alles richtig machen (und alle verzaubern) kann. Selbst die Zugabe war noch handverlesen und auf den Punkt: das englische Volkslied „I Will Give My Love An Apple“.

CD: „Paradise Lost“ (alpha, CD ca. 15 Euro)