Hamburg. Inger-Maria Mahlke im Interview über antisemitische Stereotype in den „Buddenbrooks“, ihr neues Buch und ganz harten Sexismus.
Für ihren Roman „Archipel“ erhielt Inger-Maria Mahlke 2018 den Deutschen Buchpreis. Der Roman erzählte ein Jahrhundert europäischer, kanarischer Geschichte. Die 1977 in Hamburg geborene Mahlke wuchs teilweise auf Teneriffa auf, vor allem aber in Lübeck. Dieser Stadt widmet sie sich nun in ihrem neuen Buch „Unsereins“, dem zweiten Gesellschaftsroman über Lübeck. Den ersten hat, wer wüsste es nicht, der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann geschieben. Ein Gespräch über Lübecks größten Helden, der erst als Schüler und später als Autor der „Buddenbrooks“ selbst in „Unsereins“ auftritt.
Für das kommende Jahr hat Ihr Rowohlt-Kollege Strunk den Roman „Zauberberg 2“ angekündigt. Mit welchem Recht darf ich „Unsereins“ „Buddenbrooks 2“ nennen?
Inger-Maria Mahlke: Für mich ist „Unsereins“ ein Roman, in dem die Entstehung eines anderen Romans eine Rolle spielt. Keine Fortführung der Buddenbrooks, bitte nicht, sondern ein eigenständiger Text. Ich maße mir nicht an, so schreiben zu können wie Thomas Mann.
Sind Sie Thomas-Mann-Fan?
Es gibt Autorinnen und Autoren, die ich mehr als Leserin bewundere, und Autorinnen und Autoren, die ich eher als Schreibende bewundere. Thomas Mann gehört der zweiten Kategorie an. Ich bewundere sein handwerkliches Können, die literarischen Mittel, über die er verfügte, aber ich lese ihn nicht.
Inger-Maria Mahlkes Version der „Buddenbrooks“: Es war einmal in Lübeck
Wie präsent war der deutsche Literaturgott in Ihrer Lübecker Jugend?
Omnipräsent. „Lübeck – Die Stadt der Buddenbrooks“. Der zweite Exportschlager neben Marzipan.
Haben Sie in den Lübecker Archiven schnell erkannt, welches reale hansestädtische Personal Thomas Mann einst porträtierte?
Ich habe schnell erkannt: Die Nebenfiguren zu entschlüsseln wäre eine Lebensaufgabe. Thomas Mann hat zum Beispiel die Daten von Person A. vermischt mit anekdotischen Ereignissen aus dem Leben von B., dazu das Äußere von Person C., und verheiratet hat er die Figur dann mit dem Partner oder der Partnerin von Person D.
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Eine Ihrer Romanfiguren ist „der Pfau“ Thomas Mann. Dessen großer Erfolg „Buddenbrooks“ ist Gegenstand des Stadtgesprächs in „Unsereins“. Hat Sie an dem historischen Stoff auch gereizt, dass die relativ hermetische High Society in einem kleinen Ort wie Lübeck früher noch so leicht aufzuscheuchen war? Ein Schlüsselroman, in dem sich alle wiedererkannten!
Eigentlich war es eher ein Sturm im Wasserglas, Thomas Mann bauschte die Ablehnung gerne auf. Die als rückständig und verschroben karikierten Lübecker begriffen schnell, dass ihre Empörung sie nur noch rückständiger und verschrobener wirken ließ. Die eine Hälfte erklärte den Roman daher für „köstlich!“, die andere, ihre Entrüstung beziehe sich nur auf die Affäre, die Thomas Mann seiner Mutter angedichtet hatte.
Und die im Roman auftretenden Hagenströms?
Anders sieht es bei den Figuren dieser Familie aus, den Gegenspielern der Buddenbrooks, hier wird die Sache schlicht bösartig. Thomas Manns beschreibt sie mit einer Aneinanderreihung antisemitischer Stereotype, diffus werden sie als „Sündenböcke“ für den Niedergang der Buddenbrooks und der „guten alten Zeit“ verantwortlich gemacht. Aber weder Daten noch Ereignisse stimmen, scheint mir, die finanziellen Probleme der realen Familie Mann waren hausgemacht, und auch sonst war nix mit Niedergang. Aber die Lübecker haben das dog whisteling von Thomas Mann, den antisemitischen Zuschreibungsprozess, verstanden, dechiffriert. Und dann perpetuiert.
Was hat Sie an der standesbewussten Gesellschaftsordnung der vorletzten Jahrhundertwende gereizt, die in Ihrem Roman schon im Wandel begriffen ist?
Neben ihren heute fast komisch anmutenden Ritualen die offenkundigen Widersprüche und Lebenslügen. Zum Beispiel wähnten sich Mitglieder des Bürgertums, obwohl sie ihre gesellschaftliche Position quasi erbten, trotz der Standesregeln, die die soziale Undurchlässigkeit zementierten, trotz des Filzes und Postengeschiebes in einem meritokratischen System. Sie glaubten, sie hätten einen Anspruch auf ihre gesellschaftliche Position, und zwar dank ihrer individuellen Leistung. Der zähe Abwehrkampf gegen die politische und gesellschaftliche Teilhabe der Mehrheit war eine Konsequenz. Der Verlust von Privilegien fühlte sich an wie eine Enteignung.
„Unserereins“ von Inger-Maria Mahlke: Der Roman endet acht Jahre vor dem ersten großen Krieg
„Unsereins“ endet 1906 ...
... und in einer Gesellschaft, die sich acht Jahre später durch einen aus aggressivem Nationalismus unternommenen Angriffskrieg selbst zerstören wird. Flottenbau, Jahrzehnte innenpolitischen Stillstands durch Blockade tiefgreifenderer Reformen, ein dauerpräsenter Nationalismus bildeten eine Gemengelage, in der der Krieg als Ventil diente. Auch davon erzählt „Unsereins“. Allerdings, wie ich hoffe, auf Augenhöhe mit den Figuren. Diese Entwicklungen sind im Roman nicht mit einem rot blinkenden Warnschild versehen: Hier geht es zum Krieg. Mir ging es insoweit um historische Kontingenz.
Frauen sind im Roman von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen, auch wenn sie zur Oberschicht gehören. Haben Sie, was das angeht, beim Abtauchen in die Schwundstufe „Lübeck, um 1900“ auch Frust empfunden?
Fast nur Frust! Gar nicht so sehr bei den Gesetzen und Regelungen, die Frauen ausschlossen, das weiß man ja. Wirklich schwer auszuhalten waren die Mikroaggression, wie man es heute bezeichnen würde. Die immer mitlaufende Annahme – etwa in den Briefen aus den Nachlässen –, dass Frauen schwach, dumm, weltfremd, naiv etc. seien: in fast jeder Zeile, jedem Gedanken. Häufig auch internalisiert von weiblichen Schreibenden. Es muss unfassbar schwer gewesen sein, sein Selbst zu behaupten, wenn man permanent von allen, auch eigentlich wohlmeinenden, nahestehenden Menschen, abwertend gespiegelt wird.
Ihre Familie Lindhorst ist jüdischer Herkunft, an ihr lässt sich untersuchen, wie intolerant die Patrizier waren. Musste es diese Familie und keine andere sein, der Sie sich literarisch widmen?
Ja, denn sie ist ein Beispiel dafür, wie unmöglich es für Betroffene war, sich antisemitischen Ressentiments und Ausgrenzungen zu entziehen. Selbst wenn sie der Verfolgung und dem Anpassungsdruck nachgaben, wie es die Großeltern der Lindhorsts taten. Nachdem die unter französischer Besatzung durchgesetzte rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung nach Napoleons Niederlage wieder rückgängig gemacht wurde, ließen sie, wie viele andere, aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ihre Kinder taufen, um ihnen eine Lebensperspektive, ein Sein ohne beständige Bedrohung zu ermöglichen. Doch zwei Generationen später
wird die Familie noch immer diskriminiert.
Inger-Maria Mahlke: „Der Roman soll unterhalten“
Wenn man es optimistisch betrachten möchte, ist „Unsereins“ aber sonst kein Roman, der viel Aktualität beanspruchen kann. Liege ich da falsch?
Ich formuliere es mal so: Ich hoffe, Sie liegen richtig. Eigentlich ist „Unsereins“ ein Roman, der unterhalten soll, auch komisch sein, eine vergangene Welt erfahrbar machen. Ohne über ihre Missstände hinwegzusehen.
Würde es Sie erstaunen, wenn Leserinnen und Leser am meisten Sympathie mit dem Dienstmädchen Ida und der nonkonformistischen Bürgerstochter Henriette hätten?
Überhaupt nicht, ich mag die beiden auch sehr. Beide versuchen, sich aus der geschilderten gesellschaftlichen Enge, dem Dickicht der Verhaltensvorschriften zu befreien und einen eigenen Lebensentwurf zu wagen.
Inger-Maria Mahlke stellt ihren Roman am 14.11. im Literaturhaus vor, Beginn der Veranstaltung ist 19.30 Uhr.