Hamburg. Die Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke gehört mit ihrem bisher besten Werk zu den Favoriten des Deutschen Buchpreises.

Dieser Roman geht rückwärts in der Zeit. Als gemächliche Retroschau, die in vielen Aufblenden 100 Jahre umfasst. Als Geschichtsbuch und Familienchronik. Als Buch über das spanische Verhängnis, als Hommage an Teneriffa. „Archipel“ heißt dieser Roman. Seine Konstruktion ist gewagt, seine Qualität unabweisbar, und seine Autorin ist spätestens jetzt in der Premiumliga der deutschsprachigen Literatur angekommen.

Inger-Maria Mahlke ist jene Autorin, geboren 1977 in Hamburg, aufgewachsen in Lübeck und auch auf Teneriffa, wie man nun erstmals in einer Mahlke-Veröffentlichung in den Angaben zur Autorin lesen kann. Und sie darf wohl als eine der Favoritinnen auf den Gewinn des diesjährigen Deutschen Buchpreises gelten, der am 8. Oktober verliehen wird und bei dem sie auf der Shortliststeht. „Archipel“ ist der vierte Roman von Inger-Maria Mahlke, die angefangen bei ihrem 2010 mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichneten Debüt „Silberfischchen“ – das vieles war, unter anderem auch eine dunkel schimmernde Misanthropiestudie – über den Neukölln-Roman „Rechnung offen“ und die literarische Tudor-Tollheit „Wie Ihr wollt“ eine enorme thematische Varianz an den Tag gelegt hat.

Ihre ambitionierteste Arbeit

Jetzt also „Archipel“, Mahlkes bislang ambitionierteste Arbeit. In einer historisch weit ausgreifenden Bewegung erzählt sie Stück für Stück die große Geschichte – Franco! – und die kleine, die Sozialgeschichte Teneriffas und Spaniens. Der Endpunkt dieser Geschichte ist Rosa Bernadotte, die im Jahr 2015 vom Festland nach Teneriffa zurückkehrt. Als abgebrochene Kunststudentin. Auf der Insel trifft sie auf ihren Vater Felipe, einen desillusionierten Historiker, der nicht mehr forscht, sondern nur noch an der Bar sitzt: Mit seinen Ahnen, den Franco-Parteigängern, hadert er.

Die Lesung

Sie trifft auf ihre Mutter Ana, die in eine Politaffäre verwickelt ist. Sie trifft auf ihren Großvater Julio, der uralt ist und einst vor vielen Jahren von Francos Fascho-Schergen eingesperrt wurde. Rosas Schicksal als das einer an einer Wegscheide stehenden jungen Frau wird in dem Anfangsteil dieses exakt, aber keineswegs gleichmäßig proportionierten Romans (die späteren Teile sind jeweils deutlich kürzer) auf denkbar undramatische Weise erzählt.

Immer am Detail interessiert

Dabei erscheint all das Kleine, Alltägliche, das Rosa erlebt, wie unter einer Lupe: Die formbewusste Stilistin Mahlke ist immer am Detail interessiert, an jeder Bewegung ihrer Helden, an der Beschaffenheit der Dinge, mit denen diese zu tun haben, und der Art und Weise, wie sich ihre zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten.

Den anderen Hauptfiguren dieses ersten Teils begegnet der Leser in Mahlkes sorgfältig inszenierter Zeitebenen-Collage wieder. Am öftesten und längsten Julio, in dessen langer Vita sich das Ich und der Ort am meisten miteinander verschränkt haben. Zeit und Ort formen den Menschen, und wenn ein Mensch in den Epochen lebt, in denen Julio lebt, dann hat der die Systeme kommen und gehen sehen. Francos Aufstieg und Fall sind in Mahlkes Roman in dramaturgischer Hinsicht aber lediglich Randpunkte. Mehr Aufmerksamkeit schenkt sie dem erfolglosen Putsch von 1981, als Militär und Guardia Civil versuchten, die Diktatur wiedereinzuführen.

Historischer Überschneidungspunkt

Obwohl es einen historischen Überschneidungspunkt gibt – 1936 startete General Franco tatsächlich von Teneriffa aus seinen Putsch gegen die Repu­blik–, ist die Insel immer am Rand der Geschehnisse gelagert. Diesen Rand nimmt die Erzählerin Mahlke ins Visier und ist dabei doch im Zentrum der Dinge: Wenn sie von den Inselbewohnern berichtet und ihren Erlebnissen an der geografischen Peripherie, dann ist sie in Wirklichkeit doch auch so nah an der Gesellschaftsgeschichte eines Landes, wie man dies literarisch sein kann.

Inger-Maria Mahlke: „Archipel“. Rowohlt. 430 Seiten, 20 Euro
Inger-Maria Mahlke: „Archipel“. Rowohlt. 430 Seiten, 20 Euro © dpa

In „Archipel“ wird von fünf Generationen erzählt, von den Vorfahren Rosas, die unterschiedlichen Schichten entstammen. Überdies verknüpft der Roman die Schicksale der Einwanderer aus Deutschland – einer ist Blumenverkäufer aus Hamburg! – und England mit der Geschichte Teneriffas und der Kolonialvergangenheit Spaniens, und neben den Bürgern rücken auch die einfachen Arbeiter in den Blick. „Archipel“ ist ein Panorama und gleichzeitig ein Kaleidoskop mit vielen Geschichten als Bilderfolge durch die Zeiten. „Archipel“ ist durch die Struktur eine Anti-Saga, der Roman hebt durch das Aus-der-Gegenwart-in-die-Vergangenheit-Erzählen die Gesetze, die in solch einem Mehr-Generationen-Stück sonst gelten, aus den Angeln. Dank ihrer minutiösen Beschreibungskunst gelingt es Mahlke, in den zeitlich versetzten Episoden in konzentrierter Form ganze Lebensläufe zu entwerfen.

Fehlt diesem Roman mit seinen fast zwei Dutzend Figuren eine erzählerische Mitte, ein zentraler Fluchtpunkt der Handlung, etwa ein düsteres Familiengeheimnis, irgendein Spannungseffekt? Vielleicht. Aber dann wäre der Roman ein anderer, und vor allem ganz anders, als Mahlke, diese so selbst-bewusste Erzählerin, ihn haben will. „Archipel“ ist in gewisser Hinsicht ein schroffes Buch: Es malt einzelne Begebenheiten farbig aus, versagt dem Leser dabei aber die Wiederankunft in der Gegenwart.