Hamburg. „Buddenbrooks“, Staffel 2: Die Buchpreisgewinnerin Inger-Maria Mahlke legt ein virtuoses Werk über die Hansestadt vor. Mit Thomas Mann.

Dass sich etwas verändert, merkt die Oberschicht. Es wird ihr nicht mehr immer die Tür aufgehalten. Das 20. Jahrhundert hat soeben begonnen. Niemand weiß, was es bringen wird. Im „kleinsten Staat im Deutschen Reich“, wie die Erzählstimme diese Stadt beharrlich und beinah völlig zu Recht nennt (Bremen ist flächenmäßig tatsächlich noch kleiner), ist die alte Ordnung noch intakt. Auch wenn die Sozialdemokratie längst die Backen aufplustert. Der patrizische Rat lenkt die Geschicke der Stadt. Ratsherren, Senatoren, so hieß das damals. Es gab auch Konsuln. Und Ratsdiener. Dienstmädchen! Ja, natürlich gab es auch Frauen. Aber die spielten im gesellschaftlichen und politischen Leben keine Rolle.

Sie waren Mütter und, sofern sie zu Großbürgern gehörten, Haushaltsvorstände. Die den erwähnten Dienstmädchen Anweisungen gaben. Es ist eine Welt, in der es viel um Ehre geht und das Wissen, wo mein Platz im großen Ganzen ist; darum, „die Dehors zu wahren“, wie es sich die Buddenbrooks gebetsmühlenartig vorbeteten. Buddenbrooks, genau. Hier ist alles Buddenbrooks. Man muss Inger-Maria Mahlkes neuen, wagemutigen, erstaunlichen, tollen Roman „Unsereins“ als Quasi-und-Beinah-Hommage an Thomas Mann begreifen. Als Parallelschreibung, als Aktualisierung. Mit dem Blick von heute auf die unfeinen Unterschiede zwischen denen, die vor mehr als 100 Jahren in Lübeck lebten.

„Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke: Wie die zweite Staffel von „Buddenbrooks“

Thomas Mann hat sich in seinem Gesellschaftsroman um die kleinen Leute wenig geschert. „Buddenbrooks“ handelte vom Niedergang einer großbürgerlichen Familie, beschrieb deren Crash in literarischer Slowmotion. Inger-Maria Mahlke nimmt sich in ihrem Roman auch Zeit. Dankenswerterweise sind ihre Sätze nicht so lang wie die von Thomas Mann, dabei aber vollgesogen mit derselben Ironie. Das wirkt altmodisch beinah, ist in diesem Falle aber sowieso willkommen: Man hatte diese gut abgehangene Uneigentlichkeit tatsächlich vermisst. Und ansonsten ist die Stilistin Mahlke so frisch wie immer, sie hat längst einen eigenen Sound entwickelt, dem Humor nie fremd war.

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Im üppigen Personaltableau – es ist aus nachvollziehbaren Gründen dem Roman vorangestellt – tauchen aber auch Subalterne auf, sie sind in diesem Episodenroman genauso Hauptfiguren wie die standesbewussten Bürger. In diesem Fall: die Lindhorsts. Das sind der Jurist Friedrich Lindhorst und seine Frau Marie, „Tochter des berühmtesten Dichters aller Zeiten“ sowie acht Kinder, in chronologischer Reihenfolge: Erasmus, Cord, Frieder, Robert, Werner, Alma, Jost, Marthe.

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Von diesen acht Kindern lässt sich ausgiebig erzählen, aber es sind längst nicht nur sie, mit denen die meisterhaft Zeitgeschichte collagierende Erzählerin diese vergangene Epoche verstofflicht. Die Lindhorsts sind in den knapp anderthalb Jahrzehnten, so viel „Buddenbrooks“ muss sein, auch in einer Abwärtsspirale begriffen. Die Kinder sind längst nicht so tüchtig wie ihr ehrgeiziger Vater, der in den Rat der Stadt strebt, nachdem sein Bruder, Senator Achim Lindhorst, früh gestorben ist. Oder anders gesagt: Sie haben andere Interessen und Vorstellungen, werden aber durch die Ehrpusseligkeit der Alten unglücklich in das Korsett bürgerlicher Imperative gezwängt. Nicht alle leiden gleichermaßen darunter, manche können sich gar von ihnen emanzipieren.

Neuer Roman „Unsereins“: Noch einmal ist Lübeck der Ort, an dem die Literatur haltmacht

Um das gesellschaftliche Gefüge wenn nicht in seiner Gesamtheit, so doch in seiner Vielschichtigkeit abzubilden, treten in „Unsereins“ die Bediensteten Ida Stuermann, Johann Isenhagen und Charlie Helms auf. Wir nehmen Anteil an ihren Träumen und Sehnsüchten, denen enge Grenzen gesetzt sind. Und Mahlke interessiert sich auch für weibliche Schicksale. Für Marie Lindhorst etwa, die manisch-depressive Octomom, die als dennoch Unerfüllte im Sanatorium landet. Oder für Henriette Schilling, die sich nicht verheiraten lassen will. Dann wäre da noch die teilweise jüdische Herkunft der Lindhorsts, die im Roman beinah nicht erkennbar ist, eine bewusste Entscheidung der Autorin. Aber die Lebenswirklichkeit dieser assimilierten Familie wurde dennoch auch von jenen Wurzeln bestimmt.

Thomas Mann (Aufnahme von 1948) tritt in Inger-Maria Mahlkes „Unsereins“ als Romanfigur auf.
Thomas Mann (Aufnahme von 1948) tritt in Inger-Maria Mahlkes „Unsereins“ als Romanfigur auf. © picture-alliance / akg-images | akg-images

„Unsereins“ ist die noch kritischere Version Lübecks, eine Milieubetrachtung des 20. Jahrhunderts aus dem 21. Jahrhundert. Was wird hier anderes hinterfragt als die natürlich männliche Elite, die patriarchalisch organisierte Gesellschaft? Man muss diese Autorin einmal mehr bewundern: Für ihr bislang zugänglichstes Werk, für die Subtilität, mit denen sie Beziehungen, Machtgefälle und die Regeln der Zeit beschreibt, in dem es spielt. Für die Virtuosität, mit denen Szenenwechsel und Zeitsprünge arrangiert werden. Trotz 500 Seiten ist „Unsereins“ ein tatsächlich beinah effizient gebauter Roman. Die Dialoge sind gelungen, der epische Atem gewaltig. Mahlkes Einfühlung in Zeit und Raum vermag es, die Lesenden bis zur letzten Seite in den Bann oller Lübecker Kamellen zu schlagen.

Das Buchcover von „Unsereins“.
Das Buchcover von „Unsereins“. © Rowohlt Verlag | Rowohlt Verlag

Und dann ist da noch der doppelte Clou. Zum einen ist das Porträt der Lindhorsts ein Akt historischer Gerechtigkeit. Sie sind die Hagenströms aus den „Buddenbrooks“ und waren dort die Gegenspieler der Familie, mit der man als Leser sympathisierte. Zum anderen erzählt „Unsereins“, wenn man so will, die Lübecker Rezeptionsgeschichte der „Buddenbrooks“.

Die Maßnahme Mahlkes, von dem in „Unsereins“ auftretenden selbstherrlichen Schüler und Jungautor Thomas „Tomy“ Mann nicht aus Sicht eines Lindhorsts, sondern des aus Berlin stammenden Internatsschülers Georgs zu erzählen, ist gut gewählt. Georg ist ein Beobachter aus der Distanz. Und dass dieser den Dichter-Kult Otto Grautoffs beschreibt, des ebenfalls im Roman auftretenden Jugendfreunds, ist eine köstliche Metapher auf die Mann-Anhänglichkeit der Deutschen.