Hamburg. Die oft herrlich gespreizte Korrespondenz der Schriftsteller-Brüder Mann ist eine Berühmtheit – jetzt ist Nachschub erschienen.

Eine Sensation? Ja, was denn sonst. Da werden mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ableben zweier Literaturgrößen noch Korrespondenzen jener beiden gefunden. Beim Aufräumen, mutmaßlich. Thomas Mann und Heinrich Mann, das wichtigste Bruderpaar der deutschen Kulturgeschichte, in neuen auch noch selbstverfassten Zeitzeugnissen? Donnerwetter.

Da bebte die Germanistik. Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen bekamen Schnappatmung, Mann-Anbeter sprangen auf und ab: Eine seltener Glücksfall wurde ihnen zuteil. Als die Enkelsöhne Heinrich Manns die unverhofften Funde, 81 von Thomas an den älteren Bruder adressierte Postkarten, nach zähen Verhandlungen 2012 an die Lübecker Museen verkauften, gab es noch einmal Breaking News zu den deutschen Klassikern. Im Buddenbrookhaus wurden die „neuen“ Briefe Ende 2012 schon der Öffentlichkeit vorgestellt.

Neue unbekannte Briefe der Schriftsteller-Brüder Mann

Die Literaturwissenschaft ist eine genaue, akkurate, zähe Angelegenheit. Hier wird ordentlich und seriös gearbeitet. Die Schreiben mussten transkribiert (Sütterlin!) werden. Aber das ist nicht alles. 2017 gab es noch eine Entdeckung, als die Mann-Forscherin Cordula Greinert in einer amerikanischen Bibliothek auf 31 bis dahin unbekannte Briefe und Postkarten Thomas Manns stieß.

Was das, gemeinsam mit zwei unbekannten Briefentwürfen Heinrich Manns, für die erst jetzt vorliegende Neuausgabe des zuletzt 1995 veröffentlichten Briefwechsels heißt? Es gibt mit 377 Schreiben nun mehr als 100 mehr als in der vorhergehenden Edition. Und bis auf die Briefentwürfe Heinrichs wird der Zusatzstoff zur berühmten Korrespondenz tatsächlich erstmals veröffentlicht. In einer leserfreundlichen Ausgabe.

Korrespondenz der Schriftsteller ist eine Berühmtheit

Wobei sich das Letztere wie von selbst ergibt: Die meist herrlich gespreizte Korrespondenz der Schriftsteller ist eine literarische Berühmtheit, das unvergleichliche Zeugnis der deutschen Gesellschafts- und Geistesgeschichte und auch des deutschen Verhängnisses. Sowie ein einmaliger brüderlicher Dialog, in dem es um Konkurrenz, Nähe und Distanz geht und in dem weltanschauliche sowie ästhetische Standpunkte verhandelt und diskutiert werden.

Wie sollte man das, zumindest als der Epoche und der Literatur Zugeneigter, nicht alles unendlich interessant finden? Die Relektüre, das neuerliche Lesen bringt den abermaligen Gewinn, und zwar meist speziell dann, wenn sich die Brüder ordentlich zanken.

Viele Jahre Funkstille zwischen den Mann-Brüdern

Ein Befund, der direkt zu den nun in den Briefwechsel eingearbeiteten neuen Texten führt. Ein Briefentwurf aus der Feder Heinrichs, abgeschickt wurde dieses Schreiben nie, ist dabei ein ziemlich gutes Beispiel dafür, wie ultragepflegt die Konversation dieser beiden kultivierten Sprachmenschen war – und wie tief die Gräben mitunter doch waren. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs herrschte zwischen den Brüdern für viele Jahre quasi Funkstille, diese wird durch den Zuwachs an Korrespondenz nicht widerlegt.

Auch die Neuware stammt fast ausschließlich aus den Jahren 1901 bis 1914 und 1922 bis 1928: Es wäre sicher das allergrößte anzunehmende Ereignis, fänden sich Briefe aus jener Zeit, in denen der weltanschauliche Gegensatz anscheinend zu gigantisch war, um Briefe auszutauschen. Die Gegnerschaft im Politischen – hier der Kriegsbejubler und Monarchist Thomas, dort der Pazifist und Demokrat Heinrich – ist legendär. Sie wurde auch öffentlich ausgetragen.

Heinrich Mann war der moderneTyp

Aber Gegensätze wurden auch im ästhetischen und persönlichen Feld markiert. Der angesprochene „neue“ Brief nun markiert vor allem auch den Reiz des Privaten. 1903, Thomas war seit der Veröffentlichung der „Buddenbrooks“, wie man retrospektiv sagen kann, schon auf der Überholspur, ging es zu Anfang beider Schriftstellerkarrieren vor allem um ästhetische Belange. Heinrich war der moderne, romanische Typ (Thomas an Heinrich: „Aber ich vermisse jede Strenge, jede Geschlossenheit, jede sprachliche Haltung“), Thomas der strikte, jedes Wort wägende, künstlerische Typ, der dem wilhelminischen Zeitgefühl seinen gültigsten Ausdruck geben wollte.

Als sie ihre diesbezüglichen Meinungen austauschten, kam Thomas Mann anlässlich eines Romans seines Bruders auf dessen allzu frivole Darstellung des
Körperlichen zu sprechen. Über „Die Jagd nach Liebe“ rümpfte er die Nase. Er fand dort alles übertrieben, „zu viel ,Schenkel‘, ,Brüste‘, ,Lende‘, ,Wade‘, ,Fleisch‘“.

Thomas Mann umtänzelte schöne junge Männer

Was auch daran gelegen haben könnte, dass der Chefsublimierer Thomas Mann in seinem eigenen Werk lieber schöne junge Männer umtänzelte. Auf die Kritik des Jüngeren antwortete jedenfalls, das macht diesen neuen Quelltext zu einem speziellen Leseerlebnis, der Erstgeborene mit einer Schroffheit, die kaum durch die Wohlgesetztheit der Worte kaschiert werden kann und auch nicht soll.

Heinrich hatte dem Nörgler schlicht mitzuteilen, dass er „zum ersten Mal“ seine „Zuständigkeit leugnen“ müsse. Und weiter: „Schade, daß ihr von Drüben für mich und meine Art nur Mißbilligung haben könnt: und sie in willkürlicher nurzu ›[ein unleserliches Wort]‹ Herabsetzung [drei oder vier unleserliche Wörter] äussern müßt: es entgeht euch Genuß. Wenn die Erotik vollkommen ist, umfaßt sie Körper und Seele.“

Große Differenzen zwischen den Brüdern

So Heinrich Mann am 5.12.1903. Dieser neue Teil der Korrespondenz (der wie erwähnt nie abgeschickt wurde) sticht in Form und Inhalt aber aus den nun erstmals veröffentlichten Sendungen jedoch heraus. So konfrontativ geht es sonst dort nicht zu, der Briefwechsel des Bruderpaars ist insgesamt aber vor allem aufgrund der Differenzen der so unterschiedlichen Schriftsteller ein fesselndes Zeitzeugnis. Wäre es da ein Wunder, dass man zunächst den Streit der Manns auch in der Neuware sucht? Dass man danach lechzt, dem Psychogramm dieser besonderen Beziehung in seinen konstituierenden Momenten durch Disput (und Versöhnung) nachzuspüren?

Oder will man ganz im Gegenteil doch eher die ganz andere thematische Linie? Voilà: In den vielen „neuen“ Postkarten geht es um lebenspraktische Tipps – 27.11.1909, Thomas an Heinrich: „Ich vergaß, zu schreiben, daß ich jetzt immer Yoghurt trinke und es Dir, wenn Du’s noch nicht probiert hast, sehr empfehlen kann. Es ist wohlschmeckend und leicht abführend.“ Oder um Urlaubsgrüße – 29.8.1927, Thomas aus Kampen auf Sylt an Heinrich: „Die Reize dieser Insel sind keusch und karg und lenken den Sinn auf Grog.“ Sie werfen sicher ein neues Licht auf die Dynamik der Beziehung, insofern sie auch die Alltäglichkeit im Umgang miteinander erhellen. Es wurde halt keineswegs immer gestritten. Im Gegenteil, man sorgte sich ums Wohlergehen des anderen.

Auch die Brüderlichkeit wurde spürbar

Heinrich Mann/Thomas Mann: „Briefwechsel“,  S. Fischer. 816 S., 32 Euro.
Heinrich Mann/Thomas Mann: „Briefwechsel“, S. Fischer. 816 S., 32 Euro. © S. Fischer Verlag

Oder, wie Hans Wißkirchen, Thomas-Mann-Fachmann und Leiter des Buddenbrookshauses in Lübeck, in seinem kenntnisreichen Vorwort zur Neuaus­gabe des Briefwechsels emphatisch schreibt: „So wird in den neuen Materialien ein anderes, von größerer Harmonie geprägtes Verhältnis der Brüder untereinander deutlich. Das ist kein Widerspruch! Die großen Gegensätze werden damit nicht zugedeckt oder gar gelöst, vielmehr tritt diese andere Brüderlichkeit neben die bekannten und bleibenden Streitthemen.“

Kann man so sehen. Und die durch die Postkarten belegten Korrektoratsdienste oder ersten Lektüren der Veröffentlichungen des jeweils anderen sind ein Schmankerl. Vor allem etwa im Hinblick auf Thomas Manns Meinung über Heinrich Manns wichtigsten Roman „Der Untertan“: 1914 las er den als Fortsetzungstext in der Zeitschrift „Zeit und Bild“ noch ganz anders, nämlich freundlicher, als vier Jahre später anlässlich von dessen Bucherscheinung.

Einzigartiger Briefwechsel zwischen den Mann-Brüdern

Aufgrund der tendenziellen Banalität mancher Nachrichten, die sich die Brüder sandten, mag man insgesamt staunen, die Schultern zucken oder fast erleichtert sein (endlich mal keine hochtrabenden Diskussionen). Am Ende aber bleibt dieser Briefwechsel vor allem einzigartig. Die abermaligen Lektürestunden mit den mal zankenden, mal sich innig zugetanen Brüdern verdeutlicht einmal mehr, wie sich die Kräfteverhältnisse wandelten.

Heinrich war in frühen Jahren ein Orientierungspunkt für den jüngeren Mann. Später dann war der ein Weltstar, während der Ältere sich aus der Öffentlichkeit verabschiedete. Thomas Manns Werk ist das Höherstehende; aber es bleibt Heinrich, der immer wieder sympathischer erscheint, als Person zugänglicher: Seinem Wesen nach war er weniger aufgeblasen als der Ehrgeizling Thomas, der von der eigenen Wichtigkeit so überzeugt war.