Hamburg. Daniil Trifonov und Yannick Nézet-Séguin baden mit dem Philadelphia Orchestra im Rachmaninow-Klang – sensationell!
Alles andere als ein makelloses Ergebnis wäre bei dieser Konstellation von Fans und Fleißarbeitern und dieser Vorgeschichte auch sehr überraschend gewesen: Daniil Trifonov hat mit dem Philadelphia Orchestra und Yannick Nézet-Séguin alle vier Rachmaninow-Klavierkonzerte exemplarisch eingespielt. Im Januar haben der quirlige Kanadier und sein US-Orchester in der Carnegie Hall einen Viereinhalbstunden-Marathon mit diesem Viererpack und Yuja Wang als offenbar unkaputtbare Virtuosin realisiert; im Juni brillierte Trifonov mit seinem Lehrer Sergei Babayan bei einem Rachmaninow-Special in der Laeiszhalle.
Nun also: zwei Tournee-Abende mit Virtuosem und Orchestralem in der Elbphilharmonie von und mit und über und einzig und allein: Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow.
Elbphilharmonie: zwei herausragende Konzerte mit Trifonov und Nézet-Séguin
Interessant und bezeichnend für die geteilte Begeisterung, dass es dafür nicht das populärste Dritte oder wenigstens das Zweite, sondern das Vierte Konzert war, mit dem die Hommage für den diesjährigen Jubiläums-Geburtstagskomponisten begann.
Das Stück hat einen sehr eigenen Reiz: Als hätte Rachmaninow mit sich selbst Pauschal-Bingo spielen wollen, kommt ständig alles vor, was man von einem seiner Virtuosen-Konzerte erwarten würde: Vollgriffiges Losrasen aus dem Startblock im Kopfsatz, flauschig romantisierte Melodie-Ideen, die mit Genuss breit ausgebreitet werden, reibungsstarke Harmonieverläufe, und natürlich jede Menge Zehn-Finger-Akrobatik im Solo und prächtig inszeniertes Gegenhalten im Tutti. Klischees satt und drumherum warme Luft, könnte man befürchten.
Elbphilharmonie: Vollbad von Trifonov und Nézet-Séguin im Rachmaninow-Klang
Doch Trifonov nahm und kredenzte das Stück mit großer Ehrfurcht und gleichzeitig noch größerer funkelnd ausgereizter Verspieltheit. So flach ist es eben doch nicht, derart klangfarbenschön unter die Lupe genommen. Das Orchester bestätigte sein Top-Renommee in jeder Bühnenaufstellungs-Region des Großen Saals: ein Blechsatz, für den andere Chefdirigenten töten würden; Holzbläser, die seidig fein aufeinander reagierten, Streicher, von denen jeder für zwei klang, mindestens.
Sensationell auch, wie sensibel und sanft Trifonov sich in die nur ganz leicht verschrobenen Träumerei-Passagen des Largo fallen ließ, bevor er zum Endspurt in den interessant verwinkelten Finalsatz aufbrach, um das Publikum endgültig zu Bewunderern dieses Stücks zu machen. Und Nézet-Séguin? Der ließ entspannt dem Orchesterapparat seinen Lauf, dafür brauchte es keine ständigen Kontrollblicke mehr über die linke Schulter hin zum Solisten, über die Phase des absichernden Verständigenmüssens sind die beiden bei diesem Repertoire weit hinaus.
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Nach der Pause folgte als kleines Gegengewicht zur Rarität die Zweite Sinfonie, die mit dem Kuschelklassik-Adagio-Satz, der dank des eingebetteten Solo-Klarinetten-Konzertchens klingt, als hätte man einen Sonnenuntergang am Meer in Pralinenform gebracht. Bei Nézet-Séguin erinnerte schon der Kopfsatz hin und wieder dezent an Sibelius mit reichlich Zuckerguss. Aber dieses Schmachten in Übergröße, die Art und Weise, wie konsequent Nézet-Séguin viele Ecken und Kanten von diesem unglaublich sonoren, aber nie dickflüssigen Streicherklang rundschmusen ließ, das war schon sehr großes Sinfonik-Kino. Während des tosenden Schlussapplauses ging Philadelphias Musikdirektor auf der Bühne vor seinen Solo-Bläsern auf die Knie. Womit? Mit Recht.
Während des Schlussapplauses geht Musikdirektor vor Solo-Bläsern auf die Knie
Mehr als eine nett gefühlige Fingerübung für das Orchester war die einleitende „Vocalise“-Bearbeitung nicht, der erste eigentliche Kracher des zweiten Abends nach dieser Nice-to-have-Einleitung war die „Paganini-Rhapsodie“. Das Ausgangsthema ist bestens bekannt, was Rachmaninow daraus und damit hervorzauberte, grenzt einerseits an die paillettenpanierten Las-Vegas-Shows des Teufelspianisten Liberace, andererseits an die spätromantisch verklärte Selbstentrückung beim späten Liszt, wenn es tief ins rhapsodische Schwärmen und Schwelgen geht.
Elbphilharmonie: Mit dieser Art Zugabe hätte man nun wirklich nicht gerechnet
Trifonov gelang der Balanceakt zwischen diesen beiden Polen bestechend gut. Wunderbar groß im Ton, rasant perlend und dabei immer glasklar ausnuanciert, egal, mit wie vielen Zweiundreißigstel-Notengirlanden ihn Rachmaninows Stück von allen Seiten bewarf. Der nächste sensationell gute Abschnitt dieses Konzertdoppels – wäre da nicht diese Zugabe gewesen, mit der man bei einem Klassik-Pianisten wie Trifonov nun wirklich nicht gerechnet hätte. Er spielte mal eben ein Stück von Art Tatum, jenem Jazzpianisten, dessen überschallschnelle Finger sämtliche Kollegen bei Wettkämpfen k. o. rasten. Und das mit einer enorm lässigen Swing-Selbstverständlichkeit, völlig frei von allem akademisch Antrainierten. Das kann er also auch.
Atempause, Runterkommen. Das Orchester zog ohne Trifonov den Schlussstrich, fast so, wie es am Vorabend begonnen hatte, mit der Ersten Sinfonie, die sich, typisch Frühwerk, nie recht entscheiden kann, was sie sein soll und wohin sie letztlich mit sich und ihren vielen Einfällen und Handschrift-Entwürfen will. Doch auch hier holte Nézet-Séguin das Optimum aus dem Material heraus, mochte die Motiventwicklung auch noch so viele jähe Haken schlagen; Blech und das Schlagwerk fanfarten die Erste strahlend stark ins Happy End, hin zum nächsten begeisterten Schlussapplaus.
Trifonov / Nézet-Séguin-CDs: Trifonov / Nézet-Séguin-CDs: „Destination Rachmaninov“. Klavierkonzerte, Transkriptionen u. a. (DG, 3 CDs, ca. 33 Euro). „Rachmaninov Variations“ (DG, ca. 18 Euro).