Hamburg. Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin brilliert mit Debussys “La Mer“ und Prokofiews Fünfter in der Elbphilharmonie.

Eine Partitur besteht aus unendlich vielen drohenden Fehlerquellen; verbiegt man links etwas, rumpelt es rechts, wenn man Pech hat. Wenn man Glück hat, ist es in einem Auftritt der Berliner Philharmoniker gänzlich anders. Wobei „Glück“ eine arg unpassende Umschreibung für die Exzellenz ist, die dieses Orchester spielerisch, lässig geradezu abliefern kann.

Allerdings waren die Grundvoraussetzungen für ein beeindruckendes Elbphilharmonie-Gastspiel auch ziemlich ideal: Mit dem agilen Energiebündel Yannick Nézet-Séguin als Gastdirigent hatte man sich zwei Panorama-Partituren ausgesucht, die den prächtigen Rahmen bestens ausfüllten: Debussys „La Mer“ und Prokofiews Fünfte, einerseits also das Psychogramm unbändigen Naturerlebens, anderseits ein rasant bissiges Zeitstück, entstanden kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwei Paradenummern für Orchester, denen so schnell nichts zu komplex ist.

Beim Debussy entschied sich der Kanadier fürs Vollbad-Vergnügen: Strahlende Farbschichten statt behutsam aufgetragener Aquarell-Andeutungen. Schnittiges Surfen auf den Klangwellen statt analytisch durchdachten Gleitens über die vertonten Oberflächen, in denen sich das Sonnenlicht brach und wo die Forte-Böen so rasant verschwanden, wie sie aufzogen.

Nézet-Séguin arbeitet mit der nötigen Aggressivität

Nézet-Séguin hielt die Zügel nur gerade eben mit den Fingerspitzen, energisches Nachjustieren war nicht nötig, und die hochauflösende Akustik des Großen Saals war dabei extrem hilfreich. Beispielhaft führte das All-Star-Orchester dort vor, wie man Einzelstimmen zu etwas verschmelzen kann, das viel mehr ist als nur die Summe von Teilen. Großartig, wie die Holzbläser sangen, wie satt und sanft zugleich das Blech aus der Tiefe des Raums losdonnerte, wie raffiniert das Tutti Mitdenken demonstrierte.

Wie andererseits danach mit Prokofiews Fünfter umgehen, einem Stück, dass sich zwischen Heldentum-Bejubelung und virtuoser Schärfe bewegt und dem man zudem immer anhört, wie viel tänzerischer Schwung die Strukturen durcheinanderwirbelt?

Nézet-Séguin war offenbar wild entschlossen, diese Sinfonie – ein weiteres Dokument des sowjetischen Triumphs über das Böse in der Welt – nicht bloß als entkoffeinierten Schostakowitsch-Aufguss darzustellen. Nézet-Séguin hatte zwar die schwungvollen Momente poliert, in denen die Brillanz von Prokofiews Instrumentation aufflackerte. Doch er scheute genauso wenig davor zurück, die Scharten und Schärfen mit der nötigen Aggressivität zu zeigen. Und der kollektive Galoppritt ins Finale war, wie es sich gehört, ganz große Show.