Hamburg. Unbedingt sehenswert: Die unvergessene Emily Dickinson steht im Mittelpunkt des Stücks „Im Namen der Brise“ im Malersaal.
Am Anfang ist da nur ein verhaltener Akkord. Wie ein hingetupftes Störgeräusch erklingt er. Fast ebenso lesen sich auch die wundersamen Gedichte der Emily Dickinson (1830–1886). „Vielleicht wisst ihr kaum noch, wer ich bin. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Sollte die Zukunft so mächtig sein wie das Vergangene, welche Aussicht wartet dann?“, ertönt Sasha Raus Stimme durch eine Art Ventilator.
„Ach, schon fort? Dann hebe ich den Deckel zu meiner Büchse der Phantome und lege bis zur Auferstehung ein weiteres hinein. Dereinst im Paradies werde ich sie ernten, die Blüten, die hier fielen und dort am Lichtermeer nach meinen verlorenen Sanden suchen“, rezitiert Josefine Israel.
„Im Namen der Brise“ im Malersaal: Marthalers Ode an eine menschenscheue Dichterin
Diese Texte sind selbst Phantome. Flüchtig, verrätselt und doch öffnen sie ungeahnte Welten. Außerdem sind sie sehr rhythmisch, musikalisch. Und damit wie geschaffen für einen Regisseur wie Christoph Marthaler, der sie mit verwunschenen Melodien und seinem subtilen, feinen Theater-Humor verbindet.
„Im Namen der Brise“ heißt der neue Abend des Schweizers im Malersaal des Schauspielhauses. Nach dem Hölderlin-Abend „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ ist er der zweite Teil einer kleinen kammermusikalischen Trilogie, die Marthaler jeweils einer Autorin oder einem Autor aus verschiedenen Jahrhunderten widmet.
Diesmal offenbart er ein Gespür für die Welt der US-amerikanischen Dichterin. Denn Emily Dickinson, eine menschenscheue, mitunter depressive Einzelgängerin, die zu Lebzeiten nur sieben von mehr als 1700 Gedichten veröffentlichte, und winzige Begebenheiten aus ihrem Zimmer, das ihr Welt und Zufluchtsort war, in Amherst/Massachusetts heraus beobachtete.
Selbst Gebrauchslyrik bekommt bei Christoph Marthaler etwas Poetisches
Womöglich blickte sie von dort auf eine Bahnstation wie diese hier, die Duri Bischoff mit Wartebänken, Stahlrohren, Papierkörben und zwei Eisenbahnwärterkabinen grau in grau auf die Bühne gestellt hat. Aus dem Ventilatorschacht erklingen Geräusche an- und abfahrender Züge – aber eben auch mal Gedichte, die längst in ihrer innovativen Form zur Weltliteratur zählen. Samuel Weiss und Magne Håvard Brekke geben die zwei Bahnwärter mit bis in die kleinste Körperfaser erstarrtem Pflichtbewusstsein. Gelegentlich reden sie über Signale und wie sie verwendet werden können. Ein anderes Mal beten sie die Regeln über Bremsen herunter. Selbst diese Gebrauchslyrik bekommt bei Marthaler etwas Poetisches.
Die drei in elegante, altmodische Kleidung (Kostüme: Sara Kittelmann) gewandeten Darstellerinnen Josefine Israel, Sasha Rau und die Berliner Musikerin Fee Aviv Dubois sind hier zum Warten verdammt. Mal unterhalten sie sich mit den Mitteln der Dichtkunst, mal versuchen sie – vergeblich – Zigaretten anzuzünden. Bald krümmen sie sich, jeden Winkel nutzend, wie schlafende Hamster auf und unter der Wartebank zusammen.
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Dabei strahlen sie alle doch eine große Geduld aus, um die man sie angesichts der Zumutungen der Bahn der Gegenwart beneiden möchte. Lieber vertreiben sie sich die Zeit mit Gesang. Mal mit hingehauchten Weisen von George Gershwin zu den saftigen Akkorden, die Pianist Bendix Dethleffsen am Klavier zaubert. Oder zu Kirchengesängen von John B. Dykes. Mal zu überraschend zart arrangierten R-&-B-Gassenhauern wie „I’m So Excited“ der Pointer Sisters, zu denen die junge Musikerin Fee Aviv Dubois in ihre Keyboardtasten greift.
Es ist ein unaufdringlicher, bemerkenswert leiser Abend, der dann gelegentlich doch auch in sehr komische, fast slapstickhafte Momente ausbricht. Ein theatrales Kleinod, das zu entdecken sich unbedingt lohnt.
„Im Namen der Brise“ weitere Vorstellungen 16.10., 18.10., 1.11., 2.11., 25.11., 26.11., jew. 20 Uhr, Malersaal im Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 040/248713; www.schauspielhaus.de