Hamburg. Bei der Uraufführung sorgt ein starker Kunstgriff für eine düstere Atmosphäre. Zu Beginn des Stücks rücken mehrere Löschzüge an.
War es der Zorn der Götter? Ein Fluch der Theatervorsehung? Die Uraufführung des dritten Teils der Antiken-Serie „Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben“ am Deutschen Schauspielhaus mit dem Titel „Ödipus“ beginnt mit einem eher unfreiwilligen Prolog. Bei laufendem Einlass kommt die Durchsage „technische Störung“. Alle Besucher müssen das Gebäude sofort verlassen. Also drängelt man sich auf dem stürmisch-regnerischen Vorplatz, versammelt sich später auf dem Hansaplatz. Mehrere Löschzüge rücken an. Und dann dauert es.
„Ödipus“-Darsteller Devid Striesow plaudert erstaunlich entspannt mit Besuchern. Gerüchte von einem Sprinkleralarm in einem Büro machen die Runde. Feuerwehrleute murmeln etwas von „Abpumpen“. Supergau für alle Beteiligten des Abends, bei denen die Anspannung auch ohne derartige Überraschungen groß ist.
Theater Hamburg: Spannung mit jedem Atemzug bei „Ödipus“ – und Feuerwehr-Alarm
Irgendwann kommt dann doch die erlösende Nachricht. Die Feuerwehr gibt das Gebäude frei. Mit einer Stunde Verspätung geht die Uraufführung über die Bühne. Intendantin und Regisseurin Karin Beier richtet noch ein paar Worte an das Publikum. Das sei nicht ihre Lieblingsaufgabe, gibt sie ehrlich und sehr entwaffnend zu. Die Sympathien des Abends sind da auf jeden Fall schon auf ihrer Seite.
Den schwersten Job hat dann Karin Neuhäuser. Bis ganz nach vorne an die Rampe muss die Schauspielerin gehen, sich dort in ihrem gelb-violetten Hippie-Kostüm (Kostüme: Wicke Naujoks) auf einem Sandhaufen platzieren. Als Priesterin nimmt sie das Publikum an die Hand, um in den neuen Teil der Antiken-Saga zu finden, der nach dem Tod des Laios einsetzt.
„Ödipus“ Hamburg: Bühnenbild mit Spuren der Gewalt ist geblieben
Das Bühnenbild von Johannes Schütz mit seinen über die Wände verteilten, schwarz-weißen Spuren der Gewalt ist im Wesentlichen geblieben. Auch der Stier aus dem Gründungsmythos der Stadt Theben ruht wieder am Bühnenrand. Ein großer schwarzer Rahmen, der die Bühne senkrecht einfasst, verdeutlicht, wie gefangen Ödipus in seinem Schicksal ist. Die Priesterin hebt aber erst einmal zu einer Rede an über die unbehagliche, die Zeit und Nerven fressende Suche nach dem „Erkenne Dich selbst“, Kernaussage des Tempels von Delphi, in dem Pythia auf einem Dreifuß über einem Riss im Fels hockt und dem Raunen des Apollon lauscht. Neuhäuser belebt den Monolog meisterhaft und bindet humorvoll und sehr elegant schon mal die Souffleuse mit ein.
Die Offenbarungen des Gottes, sie treffen hier Ödipus, der seine Herrschaft buchstäblich auf einem gigantischen Grab errichtet. Und danach, einem Auftrag des Orakels folgend, in einer Art Detektivsuche den Gang der Ereignisse zu entwirren sucht. Dramaturgisch gibt das eigentlich nicht so viel her, denn der Stoff ist bekannt. Man weiß, dass Laios an einer Weggabelung ermordet wurde. Dass ihm sein eigener, vor Jahren wegen einer düsteren Prophezeiung im Gebirge ausgesetzter und in Korinth aufgewachsener Sohn Ödipus dort begegnete, der daraufhin nichtsahnend die Witwe des Laios, Iokaste, ehelichen und Kinder mit ihr haben würde.
Theater Hamburg: Autor Roland Schimmelpfennig erweist sich wieder mal als Glücksgriff
Weil Ödipus die Stadt von der „hündischen Sängerin“, dem „geflügelten Mädchen“, der Sphinx, befreit, wird er in Ehren aufgenommen. Aber bald wird die Stadt heimgesucht von einer entsetzlichen Seuche, deren Ursache natürlich wieder in einer göttlichen Prophezeiung zu finden ist.
„Ödipus“ des Dichters Sophokles ist eines der meistgespielten Dramen der Antike. Anders als beim zuletzt von ihm verfassten „Laios“, hat Autor Roland Schimmelpfennig hier für eine zeitgemäße Übertragung gesorgt. Obwohl er dabei deutliche Ehrfurcht vor dem Original zeigt, erweist sich der Autor wieder einmal als Glücksgriff. Denn er findet Worte, die diese Suche nach Selbsterkenntnis und Wahrheit, die Auseinandersetzung mit dem Absoluten, der Natur, dem Weltengesetz – den Göttern – nachvollziehbar und spannungsreich gestalten.
Theater Hamburg: Für eine düstere Thriller-Atmosphäre sorgt ein starker Kunstgriff
Devid Striesow gibt Ödipus als modernen Polit-Profi im Anzug mit blondiertem Kurzhaar die schillernde Selbstgewissheit, ja beinahe Selbstberauschtheit eines Aufklärers. Erst schaufelt er Erde. Dann sitzt er am auf den Hügel gewuchteten Tisch und raucht nervös eine Zigarette nach der nächsten. Bald verspeist er ein ganzes, triefendes Hühnchen, springt aufgeregt auf dem Tisch herum, gebärdet sich wie ein aufmüpfiges Kind und zerbricht gar den Blindenstab des Teiresias.
Denn er ahnt das Unglück, den Fluch, dem er nicht entkommen wird – und versucht sich doch mit den Mitteln der Ratio in einem Akt der Selbstermächtigung dagegen aufzulehnen. Auch wenn der blinde Seher Teiresias, erneut gespielt von Michael Wittenborn, ihm früh eröffnet: „Du bist selbst der Mörder, den du suchst“. Die Hybris des Herrschers endet naturgemäß bei der Wahrheit.
Karin Beier hat diesen Teil nach dem furiosen Lina-Beckmann-Solo in „Laios“ sehr stringent inszeniert. Für eine düstere Thriller-Atmosphäre sorgt ein starker Kunstgriff: ein 40-köpfiger Chor verteilt sich mit Christoph Jöde als Chorführer im Oberrang (Chorkomposition und musikalische Leitung: Jörg Gollasch). Tänzer tragen Kinder auf den Schultern über die Bühne. Wie leblose Puppen wirken sie. Ein beklemmendes Bild der Verdammnis.
„Ödipus“: Ensemble gelingt es mit bloßem Atemstoß Spannung zu erzeugen
Es ist ein Abend weniger der Aktion als der verhörartigen Gespräche. Striesows Ödipus führt sie mit dem von Ernst Stötzner wiederum ehrwürdig gegebenen Kreon. Und natürlich auch mit seiner Ehefrau Iokaste. Bei Julia Wieninger ist sie eine grandios kühl kalkulierende Unterstützerin – doch je mehr sich die Umstände des Todes des Laios erhellen, umso mehr ahnt auch sie, dass Ödipus ihr Sohn und damit verflucht ist.
Immer verzweifelter werden die Versuche von Striesows herausragend gespieltem Ödipus, der als Kind mit zusammengebundenen Füßen ausgesetzt wurde und nun an Krücken geht, der Selbsterkenntnis zu entgehen. Er jammert, schwitzt, brüllt. Und muss sich doch am Ende selbst blenden, sein Schicksal annehmen.
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Das alles spult sich in Karin Beiers Regie der Psychologie der Figuren folgend ab. Zwar wirkt die Erzählweise recht konventionell, für Intensität sorgen dennoch das ausgezeichnete Ensemble und der Chor, dem es gelingt, schon mit einem bloßen Atemstoß Spannung zu erzeugen. Es sind keine einfachen Gedanken, die sich hier stellen. Zum Beispiel jener von der im Nebel liegenden Wahrheit, die sich manchmal von jeder Seite anders betrachten lässt.
„Ödipus“ weitere Vorstellungen 15.10., 16 Uhr, 31.10., 19.30 Uhr, 18.11., 20 Uhr, 25.11., 19.30 Uhr 9.12., 20 Uhr, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de