Hamburg. Der Theater- und Opern-Regisseur Christoph Marthaler ist ein Meister im Umgang mit Eigenwilligkeiten.
Der Schweizer Theater- und Opern-Regisseur Christoph Marthaler ist ein Meister im Umgang mit zutiefst menschlichen Eigenwilligkeiten. In seinen Inszenierungen wird rührend gesungen, ausdauernd gewartet und wunderbar geschwiegen. Ein Gespräch über Musik, Humor, Abstandhalten auf der Bühne, einen Dinosaurier in Bochum und kreative Gärprozesse.
Hamburger Abendblatt: Wie erhalten sie sich Ihre gute Laune, in diesen sonderbaren Zeiten?
Christoph Marthaler: Ich bin ein sehr optimistischer Pessimist und gehöre zu den Menschen, die aus allen Situationen versuchen, das Beste zu machen. Ich habe Arbeit, habe zu tun, weniger als sonst, doch das haben nicht alle. Freunde von mir haben nichts, und das ist schrecklich.
Momentan wirkt die ganze Gegenwart wie eine riesige Marthaler-Inszenierung: Leute stehen in den Ecken herum, wissen nicht, was sie tun sollen, singen traurige Lieder, reden nicht miteinander und machen immer wieder die gleichen Fehler. Wie wirkt es auf Sie, dass Menschen sich jetzt genau so benehmen wie in Ihren Stücken? So war das doch nicht gedacht. Das ist doch Theater und sollte kein Vorbild für das wirkliche Leben sein, dass etwas so lange so schief geht.
Marthaler: Wenn Sie mir das sagen, fange ich an zu überlegen: Ja, das hat doch wohl was, obwohl die Leute oft bei mir zusammensitzen – aber mit Abstand. Mein Theater hat so viel mit Abstand zu tun. „Murx den Europäer“, das wäre jetzt ideal. Da hat jeder seinen eigenen Tisch, mit großen Abständen, alle 15 Minuten stehen alle auf, gehen einzeln nach hinten, waschen sich die Hände. Und jeder geht wieder an seinen Tisch zurück und wartet wieder, wartet, wartet, wartet. Und plötzlich singen alle in ihrer entsetzlichen Vereinzelung gemeinsam, mehrstimmig. Einheit entsteht.
Sie sind also der Experte schlechthin fürs Warten schlechthin, für das Abwarten, das Leiden, das Durchhaltenmüssen? Oder fühlen sich genauso verloren, unklar und im Nebel?
Marthaler: Ich fühle mich genau so, im Nebel, sehr sogar. Ich bin nicht einfach nur ein ruhiger Mensch, ich bin auch ein sehr nervöser Mensch und versuche in meinem Theater, etwas dagegenzusetzen. Ich habe Menschen gezeigt, die wirklich nichts mehr zu verlieren haben, weil alles schon weg ist. Ich mag halt besondere, einsame Menschen zeigen. Wenn Theater „gespielt“ wird, mag ich das nicht so sehr. Ich mag einen Text so, wie er geschrieben ist und nicht, wenn er dann noch groß interpretiert wird. Das habe ich immer gehasst. Und in der Musik habe ich die Stille immer genau so gemocht wie die Musik selber.
Sie haben kürzlich eine Gluck-Oper in Zürich produziert. Wie inszeniert man jetzt? Wie probt man, wenn man eigentlich gar nicht vernünftig arbeiten kann, weil immer jemand sagt: Um Himmels willen, das ist zu nah, hier sind zu viele Menschen im Raum?
Marthaler: Wir hatten ein Bühnenbild von Anna Viebrock, in dem man sich wirklich toll verteilen kann. Es war kein Chor da. Das war eine seltsame Probe, aber gleichzeitig auch toll. Man kommt sich sehr nahe, obwohl man auseinander ist. Man ist intimer zusammen als ohne diese Masken. Eine tolle Erfahrung.
Befürchten Sie nicht, dass das Publikum Ihre Arbeiten gar nicht so dringend sehen möchte, sobald sie wieder ins Theater kommen können, weil Ihr Stil so sehr an die Corona-Abstände erinnert?
Ich glaube sehr daran, dass wirklich die Leute unheimlich glücklich sind, wenn sie wirklich wieder ins Theater gehen können. Theater am Bildschirm finde ich schrecklich, das ist etwas völlig anderes als das, was auf der Bühne stattfindet. Lieber würde ich etwas nur fürs Streaming machen. Das bräuchte aber mehr Zeit, eine ganz neue Form finden, das fände ich toll.
Bei Ihren Inszenierungen bin ich mir manchmal nicht ganz sicher: Finden Sie eigentlich die meisten anderen Menschen blöde, oder lieben Sie grundsätzlich alle und drücken es so aus?
Marthaler: Nein, ich liebe sie schon alle und will nicht zynisch sein im Theater. Wenn ich die Menschen, die ich darstelle, nicht auch noch lieben kann, dann würde ich aufhören. Mich interessieren Menschen grundsätzlich. Besondere Menschen.
Sie haben Stamm-Spieler, mit denen Sie immer wieder arbeiten. Wäre ich Schauspieler und würde Mitglied der Marthaler-Gemeinschaft werden wollen – müsste ich bei Ihnen vorspielen, vorsingen, vorschweigen? Wie kommen Sie an Ihr Personal?
Marthaler: Ich hatte eigentlich großes Glück, von Anfang an. Manche kamen sehr früh dazu. Es ist nicht unbedingt so, dass ich Schauspieler auswähle, die singen können. Die einen können, die anderen nicht. Aber viele singen toll, so hat sich das weiterentwickelt, so hat sich eine Familie gebildet. Und ich bin sehr abhängig von Leuten, die auch kreativ sind. Was man vielleicht ganz konventionell als Inszenieren bezeichnet, will ich nicht. Es sind die Schauspieler, die wesentlichste Arbeit leisten. Ich kanalisiere das, ich bringe das zusammen.
Also sind Proben bei Ihnen eher ein kollektiver Findungsprozess? Es entwickelt sich etwas oder auch nicht, dann geht man in die Kantine und macht morgen weiter?
Marthaler: Ja, für mich sind Gärprozesse wichtig. Die erste Woche ist in dem Sinne noch keine Probe. Was man wirklich arbeitet, das ist: singen, zusammenkommen, mehrstimmig, aufeinander hören. Das fehlt dem Theater oft. Oft spielen ja Leute nicht so extrem zusammen, wie ich es als Musiker gelernt habe. Das möchte ich auch mit Schauspielern und Sängern. Auch bei Oper geht es am Anfang nicht einfach los. Es wird musikalisch probiert, klar, aber ich will die Sänger kennenlernen. Ich will sehen, was ihre Spezialität ist. Bei der „Lulu“ sage ich einer Barbara Hannigan ja nicht, sie soll sich wie eine Wahnsinnige bewegen, auf dem Kopf stehen und singen. Das bietet sie an. Es braucht Zeit.
Würde man Ihnen Unrecht tun, wenn man Sie als Unterhalter bezeichnet? Für mich ist Ihr Theater, trotz all dem Blödsinn, der da passiert, eine sehr rührende, sehr ernste Angelegenheit.
Marthaler: Ja, aber ohne Humor sollte eigentlich nichts gehen. Es gibt bei mir immer Leute, die sich köstlich unterhalten, und andere, die raus müssen, weil sie es nicht mehr aushalten oder es unendlich langweilig finden. Wenn man bei mir einschläft im Theater, habe ich nichts dagegen. Das Publikum hat jede Freiheit, was das betrifft.
Für das, was bei Ihnen auf der Bühne passiert, kann man das Verb „marthalern“ verwenden. Oft kopiert, selten erreicht. Wie würden Sie beschreiben, was Sie ihren Figuren als erstes beibringen, abnötigen oder auferlegen? Warten, warten, noch mal warten, dann kommt etwas oder auch nicht? Wie dimmen Sie Ihr Personal derart herunter?
Marthaler: Indem am Anfang erstmal jeder er selber ist, absolut, sich nicht verwandelt oder sich in einer Rolle befindet. Und über Musik. Erstmal geht man von sich selber aus und kommt dann irgendwie zu einer Rolle.
Bei der Ruhrtriennale habe ich 2018 in der Jahrhunderthalle Bochum Ihr monumentales Charles-Ives-Projekt „Universe, Incomplete“ gesehen, in dem auch ein riesiger Dinosaurier Teil der Inszenierung war. Ich bin bestimmt nicht der erste, der Sie fragt, was der zu bedeuten hatte.
Marthaler: Da kann ich nicht einfach antworten. Anna Viebrock meinte: Ein Dinosaurier, wenn der da jetzt langsam vorbeifährt… Der gehörte dann einfach dazu, der wurde Familienmitglied. Niemand hatte gesagt: Und dann muss da ein Dinosaurier sein.
Aber wo findet man im Ruhrgebiet mal eben einen etwa zehn Meter hohen grünen Dinosaurier?
Marthaler: Ich weiß es auch nicht mehr. Und der ist jetzt, glaube ich, am Schauspielhaus Bochum.
Haben Sie und Viebrock ein Requisitenlager für Ihre Produktionen, einen Fundus mit ostzonalen Tapeten und trist verlebtem Mobiliar?
Marthaler: Wir haben oft Reisen gemacht. Für das „Faust“-Projekt sind wir nach Lissabon gereist. Daraus entstand das Bühnenbild. Und Anna macht überall ganz viele Fotos. Für Verdis „Luisa Miller“ mit Sylvain Cambreling sind wir nach Busseto gefahren und haben die Verdi-Welt besucht. Für Janaceks „Katja Kabanova“ sind wir nach Brünn gereist. Das gehört auch zum Gärprozess.
Wären Sie in den letzten Monaten durchgedreht wegen der Welt an sich und überhaupt, wenn Sie nicht das Theater als Überlaufventil gehabt hätten, dieses Austoben in Zeitlupe?
Marthaler: Ich wäre ganz anders. Aber das ist das Privileg vom Theatermachen. Man kann so viel loswerden, wenn man es zulässt. Man kann direkt etwas kreieren. Wir haben für den Malersaal im Schauspielhaus einen Abend mit Texten Friedrich Hölderlins gemacht, der ist noch nicht raus. Diese Arbeit war eine ganz tolle Zeit. Man trifft sich und arbeitet, ganz sorgfältig, mit diesen Texten und viel toller Musik. Das war ursprünglich für Zürich gedacht, eigentlich wollte ich Friedrich Hölderlin und Bachs „Kunst der Fuge“ zusammenbringen. Jetzt ist auch noch ein Gambenspieler dabei. Es gibt aber auch anderes, und späten Beethoven. Wir haben Dinge genommen, die mich beschäftigen.
Können Menschen es in dieser Zeit verlernen, Kultur für wichtig zu halten?
Marthaler: Ich glaube, dass es sich für die Kultur sogar positiv auswirken kann, dass die Leute dann endlich damit noch mehr merken, was sie davon haben, etwas in einem Theater oder Kino live zu erleben.
Es gibt ein wunderbares Zitat über Sie, von Gerhard Stadelmeier, der in der „FAZ“ schrieb, Sie seien ein abgrundtrauriger Optimist, für den die Lage immer hoffnungslos, aber nie ernst ist, und theatralisch betrachtet seien Ihre Räume immer Rettungsbunker. Theater ist also schon auch Medizin.
Marthaler: Absolut.
Marthalers Playlist
- Svjatoslaw Richter
Schubert Klaviersonate B-Dur D 960 - Isabelle Faust
J.S. Bach Sonaten und Partiten BWV 1004-6
Mozart Violinkonzerte mit Il Giardino Armonico und Giovanni Antonini - Pierre-Laurent Aimard
J.S. Bach „Kunst der Fuge“ BWV 1080
Ives Klaviersonate Nr. 2 „Concord“ Messiaen Cataloge d’oiseaux „The Liszt Project“ Lachenmann „Ausklang“ BR-Symphonieorchester, Jonathan Nott - Sylvain Cambreling/Klangforum Wien
Gérard Grisey “Quatres chants pour franchir le seuil” - Helmut Lachenmann
Streichquartett Nr. 2 “Reigen seliger Geister“ Jack Quartet - Christian Gerhaher
Sämtliche Schumann-Lieder - Quatuor Mosaïques
Haydn Sechs späte Streichquartette - Clara Haskil/Arthur Grumiaux
Mozart-/Beethoven-Sonaten