Hamburg. Von der Romantik zum Barock: Im Podcast spricht der weltberühmte Pianist über Corona, die “Goldbergvariationen“ – und Sauerkraut.
Ausgerechnet Lang Lang, der Pianist, der schneller spielen kann als sein Schatten, und Barock? Und dann auch noch Bachs „Goldbergvariationen“? Man könnte skeptisch staunen, ob das wirklich seine Tasse Tee ist. Andererseits: 2017 hatte er sich durch zu viel Üben von Ravels Konzert für die linke Hand eine Sehnenscheidenentzündung eingehandelt. Eine monatelange Zwangspause folgte.
Zuletzt ließ er mit einem sonderbaren „Piano Book“ von sich hören, Nun aber möchte Lang Lang offenbar eine neue Karriere-Phase eröffnen. Ernsthaft Abstand zum Circensischen der früheren Jahre gewinnen. Die Corona-Pandemie brachte seine Pläne noch einmal durcheinander, so dass das Interview ein Sehrferngespräch wurde, weil Lang Lang seit Monaten in China ist und vorerst dort bleiben wird.
Hamburger Abendblatt: Sie sind der berühmteste Pianist der Welt, vielleicht sogar der berühmteste Musiker der Welt. Wie fühlt es sich an, Lang Lang zu sein?
Lang Lang: Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich die Möglichkeit habe, rund um die Welt Konzerte zu geben. Dafür bin ich sehr dankbar.
Und nun also Peking. Seit Monaten schon?
Lang Lang: Während der letzten Monate war ich vor allem in Shanghai. Das Leben wird hier allmählich normaler. Für die Konzerte gilt das allerdings nicht, da sind hier nur 30 bis 40 Prozent erlaubt.
Wann war das letzte „richtige“ Konzert, wann wird das erste unter neuen Bedingungen sein?
Lang Lang: Mein letztes Konzert im Westen fand im März statt. Wir planen jetzt für Dezember etwas hier in Peking, ich hoffe, das wird möglich sein.
Was fehlt Ihnen am meisten: Ihr Publikum, deren Reaktion oder die Aufregung, auf einer Bühne zu sein?
Lang Lang: Ich vermisse alles: das Reisen, das Publikum. Vor allem aber die Bühne, vor einem vollen Saal! Damit ist nichts vergleichbar.
Sprechen wir über Ihren Bach: Ich respektiere Ihre Einspielung, verstehe einiges aber nicht… Sie üben die Goldberg-Variationen nun schon seit Jahrzehnten. Wann und warum kam der konkrete Entschluss, sie aufzunehmen?
Lang Lang: Das war im letzten Jahr. Geplant hatte ich das schon immer, es aber doch von Jahr zu Jahr verschoben. Erst nachdem ich Zeit mit dem großartigen Cembalisten Andreas Staier verbracht habe, war ich mir sicher genug.
Der Dirigent und Alte-Musik-Spezialist Nikolaus Harnoncourt hat Ihnen vor einigen Jahren gesagt, Sie würden Bach ohne Fantasie spielen. Wie schockierend war es, als Lang Lang so etwas zu hören zu bekommen?
Lang Lang: Ich spielte ihm das Stück 2007 vor, und ich war sehr nervös: der große Maestro Harnoncourt! Er galt für diese Musik als der respektierteste Experte. Also spielte ich ihm das, auf dem Cembalo in seinem Haus, sehr ordentlich vor, gleichmäßig, brav. Und er meinte: Nein, das geht so bei Bach nicht! Du musst mit ganzem Herzen, mit vollem Gefühl spielen! Ich war total verwirrt. Er meinte, ich sollte das von jemandem lernen, der sich wirklich gut mit Barock auskennt. Meine Reise begann also mit der Suche danach, wie man wirklich Bach spielt.
Gemein ist aber: Es gibt nicht nur die eine richtige Methode, Bach zu spielen, erst recht nicht bei den „Goldbergvariationen“, die so viele Fallstricke und Probleme anbieten.
Lang Lang: Stimmt. Ich musste zunächst die Verzierungsstile lernen, den französischen Stil und den italienischen. Und bei Bach muss man für mindestens acht Takte eine Stimmung, einen Klang konsequent durchhalten.
Wie war es, wieder Klavierschüler zu sein? Sie sind jetzt 38. War das Spaß oder anstrengend?
Lang Lang: Das war großartig! Ich brauchte das wirklich, denn all das wollte ich ja immer erfahren. Als ich Staier traf, stellte ich ihm etliche Fragen: Wie viel Pedal? Wie viel Legato? Wie schnell kann ich Bachs 32tel-Noten spielen? Wie viel Druck können meine Hände auf die Tastatur ausüben? Dazu hatte ich immer so viel Unterschiedliches gehört. Jetzt wollte ich es genau wissen, von jemandem, der das Cembalo und das Klavier kennt. Und er gab mir fantastische Antworten! Er meinte auch, dass ich als Interpret romantischer Musik oft versuche, sehr dramatisch zu sein, und riet mir, Ruhe zu bewahren. Mit allen Wiederholungen dauert das Stück etwa 90 Minuten. Wenn man jeden Trumpf schon in den ersten drei Variationen ausspielt, wird alles sehr langweilig. Weniger ist mehr, sagte er; zu viel nervt.
Während der letzten Jahrzehnte waren Sie dafür berühmt, geradezu überperfekt zu sein. Und jetzt also lagen Sie falsch und haben das genossen.
Lang Lang: Ja, denn nur die Musik zählt, sonst nichts.
Angeblich sollen Sie während des Vorspiels bei Harnoncourt sein Instrument beschädigt haben, stimmt das?
Lang Lang: Ich glaube, ich habe eine Saite reißen lassen, vielleicht habe ich zu viel Druck ausgeübt (lacht). Aber: nur eine Saite, nur eine Saite.
Wenn es so schön war, sich über die Spielstile belehren zu lassen – warum ein moderner Konzertflügel und nicht ein historisch richtigeres Cembalo?
Lang Lang: Das kann ich nicht. Ich bin kein Cembalist, diese Fähigkeiten besitze ich nicht. Meine Finger sind das nicht gewohnt, ich kann so ein Instrument nicht kontrollieren.
Bei der Erwähnung der „Goldbergvariationen“ denkt jeder sofort an die zwei – sehr unterschiedlichen - Versionen, die Glenn Gould eingespielt hat, im Abstand von 26 Jahren entstanden. Auch Sie haben zwei Versionen vorgelegt, eine live aus der Leipziger Thomaskirche, eine Studio-Aufnahme. Seine erste hat knapp 40 Minuten, seine zweite dauert etwas über 50 Minuten. Sie bringen es auf etwa 90 Minuten….
Lang Lang: … wenn Gould bei seiner späten Fassung alle Wiederholungen gespielt hätte, wäre er wohl auch bei 90 Minuten gelandet. Ich bewundere seine beiden Aufnahmen sehr, bevorzuge aber die spätere. Als er jung war, spielte er alles sehr glatt, sehr prickelnd. In der späteren Version ist viel mehr Kampf, viel mehr Schmerz. In diesem Stück braucht es Schmerz, Dunkelheit, problematische Zeiten. Variation 15 ist sehr traurig, sehr schwierig. Die braucht das. Variation 25 ist dagegen der optimistische Höhepunkt. Die braucht Zeit zum Atmen.
Damit kommen wir zu den Dingen, die ich – zumindest teilweise – bei Ihrer Aufnahme nicht verstehe. Manche der langsamen Tempi sind so was von langsam, mit so viel Rubato, Sie romantisieren diese Musik. Ist das womöglich einfach zu viel des Guten?
Lang Lang: Genau das war eine Lektion von Maestro Harnoncourt. Er hat mir die meisten der langsamen Sätze vorgesungen… (singt). Er gab mir das Selbstvertrauen, so zu spielen.
Kann man zu jung sein, um die Goldberg-Variationen zu spielen?
Lang Lang: 38 ist okay. Glenn Goulds erste Version nahm er auf, als er 26 war.
Das sind Lang Langs Lieblingsstücke:
- Tschaikowsky Klavierkonzert Nr. 2. Vladimir Horowitz, NBC Symphony, Arturo Toscanini
- Bach „Goldberg-Variationen“. Glenn Gould (1982)
- Bach „Goldberg-Variationen“. Andreas Staier
- Beethoven Klavierkonzert Nr. 5. Daniel Barenboim, Otto Klemperer, New Philharmonia Orchestra London
- Brahms Sinfonien Nr. 1-4. Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker
- Beethoven Sinfonien Nr. 1-9. Riccardo Chailly, Gewandhausorchester
Ihre zwei Aufnahmen entstanden im Abstand weniger Tage, zunächst in Leipzig, dann in einem Berliner Studio.
Lang Lang: In diesen zwölf Tagen, die dazwischen lagen, habe ich viele neue Ideen ausprobiert. Die Studio-Aufnahme ist sehr anders, ich habe vieles umgeformt. Ich wollte Unterschiede und mehr Kontraste, ganz besonders bei den Kanons.
War die Studio-Aufnahme auch deswegen leichter, weil es nicht den enormen Kirchen-Nachhall gab, mit dem Sie klar kommen mussten?
Lang Lang: Absolut. Zunächst hatten wir nicht daran gedacht, die Leipzig-Aufnahme als CD zu veröffentlichen, wir meinten, das wäre gut für eine Dokumentation. Aber dann wurde sie so speziell. Und wenn sich Bach (sein Grab, d. Red.) direkt neben dem Klavier befindet? So etwas kann man nicht wiederholen. Es war eine so große Ehre. Am Ende des Konzerts musste ich weinen. Es war einfach zu viel, so überwältigend.
Also beginnt nun ein neues Karriere-Kapitel? Die letzte CD, voller sehr einfacher Stücke für Kinder, war etwas komplett anderes… Jetzt also der erwachsene Lang Lang, jetzt meinen Sie es tatsächlich ernst.
Lang Lang: Ich habe es immer ernst gemeint. Das „Piano Book“ war ein Projekt für junge Klavierschüler. Die spielen diese kleinen Stücke oft sehr standardisiert, das ist ziemlich langweilig, ohne Dynamik. Ich wollte ihnen zeigen, wie das geht, das war die Idee dahinter. Das jetzt ist ein richtiges Kunstwerk, ein ganz anderes Konzept. In meinem Alter möchte ich mich fordern, künstlerisch besser zu werden. Ich will neue Dinge lernen, raus aus der Komfortzone, eine neue Herausforderung. Eine neue Lang-Lang-Ära.
Wie wird es sich auf Ihr romantisches Repertoire auswirken, diesen Bach gespielt zu haben?
Lang Lang: Das wird alles verändern, was ich spiele.
Haben Sie davor Angst, Selbstvertrauen durch so ein Projekt einzubüßen? Oder ist das einfach ein weiteres schwieriges Stück, dass man lernt, spielt und aufführt?
Lang Lang: Ich war ziemlich nervös wegen des gesamten Prozesses, die Goldberg-Variationen in Konzerten zu bringen. Aber: Ich muss. Ich muss. Manchmal muss man im Leben neue Wege gehen. Ich weiß, das ist schwierig, aber die Herausforderung lohnt sich.
Ich nehme an, Sie kennen die Pianistin Yuja Wang, fünf Jahre jünger als Sie…
Lang Lang: … persönlich nicht sehr gut, aber: natürlich…
… sie hat in einem Interview über ihre Pianistinnen-Karriere gesagt, es habe für sie immer künstlerische Ziele gegeben, überall. Aber jetzt würde sie entdecken, dass es auch Blumen im Leben gebe. Das sei eine Freude, die sie riechen könne. Und sie fragte sich: Bin ich Gott oder bin ich Abfall? Sehr bedenklich. Man muss Angst um Virtuosen haben, die unter diesem ständigen Druck stehen. Können Sie ihre Perspektive nachvollziehen?
Lang Lang: Ich habe letztes Jahr geheiratet, ich fühle mich großartig. So geerdet, so sehr geliebt von meiner Familie. Als Mensch, nicht nur als Musiker, bin ich sehr glücklich. Ich verstehe sie komplett. Sie hat ihre Sorgen, das ist völlig verständlich. Musiker zu sein, ist kein einfaches Leben! Es gibt viel Einsamkeit, viel Druck. Aber wir müssen eine gute Lösung finden. Das Leben ist nicht immer schön. Aber wir müssen eine Lösung finden.
Sprechen Sie mit Kollegen darüber oder ist das backstage ein Tabu-Thema: Ängste, Einsamkeit, Depressionen?
Lang Lang: Wir reden alle ständig darüber. Wir versuchen uns zu helfen, nicht zu viel nachzudenken, entspannt zu sein. Das ist großartig, denn danach fühlen wir uns besser. Es ist aber nicht allzu schwierig, diese Probleme zu überwinden. Man muss offen damit umgehen, dann wird einem geholfen. Wir sind keine Maschinen.
Wie sehen Ihre Pläne nach Goldberg aus? Mehr Bach? Mozart? Ligeti?
Lang Lang: Ich werde als nächstes meine Gesamtaufnahme der Beethoven-Konzerte abschließen. Danach? Keine Ahnung. Aber ich werde sorgfältig überlegen, was danach kommen soll. Vielleicht ein Album mit Chopin-Mazurkas.
Wie wird die Klassik-Welt aussehen, wenn die Corona-Situation unter Kontrolle sein wird?
Lang Lang: Es wird viel mehr Konzerte geben. Die Menschen werden es genießen, wieder in die Konzertsäle zu kommen und zuzuhören. Die Säle werden rappelvoll sein.
Wie leer ist Ihr Kalender gerade, der normalerweise ja für die nächsten Jahre voll durchgeplant wäre?
Lang Lang: Ich habe alles aus diesem Jahr ins nächste Jahr verschoben. Wenn alles wieder zurückkommt, werde ich sehr, sehr viel zu tun haben. Große Reisen wird es dieses Jahr nicht geben. Ich will bei meiner Familie sein.
Zum Abschluss noch eine harte Frage: Sie stehen auf Sauerkraut?
Lang Lang: Ich liebe Sauerkraut! Meine Heimatregion in China ist berühmt für Sauerkraut. Im Winter esse ich das täglich, kein Witz!
CDs: J.S. Bach „Goldberg Variations (Deluxe Edition, DG, 4 CDs, ca. 22 Euro). Das Laeiszhallen-Konzert mit den Goldberg-Variationen am 6. November ist auf 12. November 2021 verschoben.