Hamburg. Bariton Benjamin Appl sprang für den erkrankten Matthias Goerne ein. Die Eindringlichkeit der musikalischen Gestaltung: atemberaubend.
Matthias Goerne und Benjamin Appl sind beide Bariton. Dann hört es aber auch schon auf mit den Gemeinsamkeiten. Wie sie sich in Habitus und Statur unterscheiden – gewichtig der eine, jugendlich der andere –, so unterscheiden sie sich auch im Stimmklang. Umso mutiger von Appl, von jetzt auf gleich für den erkrankten Goerne bei einem Stück einzuspringen, das vor wenigen Tagen erst uraufgeführt wurde: Jörg Widmann hat im Auftrag einiger europäischer Konzerthäuser, darunter die Elbphilharmonie, „Schumannliebe“ geschrieben, und zwar für Goerne und das Remix Ensemble Casa da Música aus Porto.
„Schumannliebe“ in der Elbphilharmonie: Die Spannung ist körperlich zu spüren
Das Erstaunliche: Appl hat die „Schumannliebe“ im Repertoire. Fast jedenfalls. Denn Widmann hat seinem Werk Schumanns berühmten Liedzyklus „Dichterliebe“ zugrunde gelegt. Dass es mit simplem Absingen nicht getan ist, versteht sich von selbst. Zum einen ist der originale Zyklus für Singstimme und Klavier, für Widmanns Version muss sich der Sänger hingegen mit dem gut 20-köpfigen Instrumentalensemble verständigen – wenn auch vermittelt durch den Avantgardespezialisten Peter Rundel am Dirigentenpult.
Und zum anderen hat Widmann ein Verfahren angewandt, das an die „komponierte Interpretation“ seines Kollegen Hans Zender erinnert: Neuerfindung und Originalpartitur werden wie Folien übereinandergelegt, sodass Letztere hin und wieder durchscheint – oft verfremdet, manchmal fast unverändert. So beginnt die „Schumannliebe“ mit Wellenrauschen, einem hohen Fiepton, einem Grollen im Bass, die sich zu einem Naturbild verbinden, bevor die Oboe ein Melodiefragment aus dem ersten Lied „Im wunderschönen Monat Mai“ einwirft. Von unendlicher Einsamkeit ist dieser Anklang. Erst mit Appls Einsatz finden Melodie und Begleitung zusammen.
Elbphilharmonie: Widmann nimmt das Publikum mit auf eine Seelenreise
Im Volumen kann sich der Sänger gegen die vielen Instrumente oft nicht durchsetzen. Dadurch gehen zwar die klanglichen Nuancen gelegentlich verloren, aber der Eindringlichkeit seiner Gestaltung tut das Balanceproblem keinen Abbruch. Appl forciert nichts, sondern nimmt es hin, dass die Stimme eher in den Ensembleklang eingebettet ist, anstatt darüber zu schweben. Zu verstehen ist er, auch dank seines hellen Timbres, sehr gut.
Widmann nimmt das Publikum mit auf eine Seelenreise, die den Titel seines Stücks mehr als beglaubigt. Wie er den Farbenreichtum der Instrumente einsetzt, um Schumanns Musik immer noch tiefer auszuloten, das macht ihm keiner nach – auch nicht Brice Pauset, dessen ebenfalls sehr gelungene, geistreiche Neuinterpretation von Schumanns Klavierzyklus „Kinderszenen“ aus dem Jahr 2003 das Remix Ensemble in der ersten Konzerthälfte gespielt hat.
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Die Spannung im Saal ist körperlich zu spüren. Keine Maus käme auf den Gedanken, irgendwo dazwischen zu klatschen. Und am Ende geht man mit dem beglückenden Gefühl nach Hause, dem großen Rätsel Schumann ein winziges bisschen nähergekommen zu sein.