Hamburg. Die Opernregisseurin Lydia Steier über Liebe, den Mozart-Film „Amadeus“ und das Verführen des Publikums.

Fast hätte es geklappt. Fast hätte Lydia Steier, die an so ziemlich allen großen Häusern schon war oder demnächst sein wird, endlich auch an der Hamburgischen Staatsoper ihr Debüt gehabt, mit Mozarts „Clemenza di Tito“ im nächsten Frühjahr. Daraus wird nichts. Wie die US-Amerikanerin zu ihrem eigenwilligen Beruf kam, was Oper ihr – und für sie – bedeutet, darüber sprach sie ebenso erhellend wie eindringlich. Das Gesprächs-Leitmotiv: Liebe.

Hamburger Abendblatt: Muss man, bei all dem Stress und dem Risiko des Scheiterns, sehr viel Liebe für Ihren Job in sich tragen, um ausgerechnet Regisseurin werden zu wollen?

Lydia Steier: Ja, eigentlich frage ich mich das bei jeder Probenphase. Ich hätte Jura studieren müssen oder irgendwas anderes, aber es ist ein bisschen wie beim Glücksspiel: Man liebt das Risiko. Das ist Teil des Geschehens, das lockt einen tatsächlich.

Begann es bei Ihnen los wie bei dem kleinen Jungen in Spielbergs „The Fabelmans“, aus dem ein Filmemacher wird? Puppenaufführungen mit fünf?

Nicht so viel mit Puppen. Ich habe damals oft an chronischer Ohrenentzündung gelitten und deswegen viel Schule verpasst. Meine Mutter hat oft Filme aufgenommen, mit sieben habe ich den Mozart-Film „Amadeus“ gesehen, das war der Grund, warum ich jetzt mache, was ich mache. Ich habe den ganzen Text auswendig gelernt und meine Freunde gezwungen, „Amadeus“ nachzuspielen; und ich habe mir auch den Trick beigebracht, wie er im Liegen rückwärts Klavier zu spielen. Dieser Film hat für mich eine Welt geöffnet.

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Opernregisseurin Lydia Steier: „Wir sind alle große Nerds“

Zunächst haben Sie Gesang, Klavier und Cembalo studiert, danach aber Regie. Was war der Auslöser dafür?

Hätte ich Deutschland Gesang studiert, wäre ich wohl noch Sängerin. Hier gibt es ein dynamisches, interessantes und zeitgenössisches Konzept von Theatermacherei, Oper und Gesang. In den USA ist das in einer Form steckengeblieben, die wirklich abtörnend ist, immer noch. Als ich studierte, während der späten 90er-Jahre, haben wir Unterricht gehabt mit geliehenen Kostümen aus der New York City Opera aus den 70ern. Die haben gestunken, alles war mit Korsagen, wir haben Dinge wie Fechten und Menuett tanzen gelernt. Ich konnte wirklich nicht verstehen, warum die diese Poesie, Kraft, Macht und Gedankenfreisetzung von Musik nicht gespiegelt werden könnte. Dann habe ich Opern auf DVDs in der Bibliothek angesehen. Die Da-Ponte-Trilogie von Peter Sellars war wie eine Offenbarung für mich, wie man die Kerne dieser Stücke für ein modernes Publikum brandaktuell machen kann, nicht für den Komponisten, nicht für ein Publikum von 1787.

Ihr Professor soll Ihnen gesagt haben: „Wenn du das Publikum in den ersten zehn Minuten nicht gewinnst, bekommst du es gar nicht.“ Das ist eine sehr amerikanische Einstellung, aber womöglich auch eine Haltung, mit der man auf europäischen Bühnen womöglich etwas Widerstand womöglich provoziert, weil man es dem Publikum ja auch nicht allzu einfach machen möchte?

Das stimmt, aber ich finde trotzdem, dass es eine wichtige Aussage ist, denn wir wollen ja tatsächlich ein Publikum verführen. Das heißt nicht, sie für dumm verkaufen zu wollen. Und hat man ein Publikum erstmal um den Finger gewickelt hat, auch ästhetisch gesehen, dann kann man ziemlich harte Botschaften einflechten, ohne dass man ein Publikum verliert. Wenn sich der Vorhang öffnet, es ist kahl und uneinladend und man hat eigentlich schon nach zehn Minuten ausgecheckt, dann kommt das Publikum nicht, egal, wie cool meine Vision oder wie wichtig die Aussage ist.

Opernregisseurin Lydia Steier: „Wenn man den Faden verliert, fängt der Sport erst an“

Was machen sie eigentlich, wenn sie mitten in einer Produktion der Selbstzweifel erwischt?

Das passiert fast jedes Mal, eigentlich absolut jedes Mal. Man geht in jede Aufgabe und denkt: Ich bin ein Fake. Was mache ich hier? Besonders bei Klavierhauptproben, wenn man zum ersten Mal die Kostüme sieht, mit Licht und Bühne, als Skizze dessen, wie es am Ende ausschauen sollte. Noch sehr roh, gar nicht raffiniert. Genau dann denke ich oft: Oh Gott, wir haben echt ins Bett geschissen und müssen nach Hause gehen. Aber dann fängt die spannende Arbeit an. Wenn man den Faden verliert, fängt der Sport erst an. Da beginnt der Spaß.

Und warum werden Sie, anders als angekündigt, Mozarts „Clemenza di Tito“ nicht im April 2024 auf die Bühne der Hamburger Staatsoper bringen?

Das ist bedauerlich. Es gab eine Reihe schwerer Erkrankungen in meiner Familie, die es nötig machten, dass ich zwischen Produktionen entweder hier für jemanden im Krankenhaus sein musste oder in die USA reisen musste. Dadurch gab es einen Stau und ich erkannte, dass in dieser Saison eine Produktion einfach ausfallen muss. Die Zeit ist nicht da, um die Ausstattung zu meiner Zufriedenheit fertig zu kriegen, um ein Konzept und eine Strichfassung auszudenken. Das war eine ziemlich brutale Entscheidung.

Sie kennen Tobias Kratzer, den nächsten Hamburger Intendanten, haben Sie mit ihm schon gesprochen, wollen sie dieses Debüt nachholen, oder dauert es nun wieder acht Jahre, bis in Ihrem Kalender wieder eine Lücke frei ist?

Nein, es dauert keine acht Jahre. Ich kenne ihn seit Ewigkeiten und es macht wirklich Spaß, mit ihm in dieser Branche zu wachsen und dass wir uns auf unseren Karriereleitern einander zuwinken können. Wir schauen, wie es sich entwickelt.

Gibt es in Ihrem Job etwas, das Sie auf den Tod nicht ausstehen können, was ihnen aber immer wieder begegnet?

Karriere und Familie irgendwie zu mischen, geht gar nicht, zu balancieren ebenfalls nicht. Das ist immer eine sehr harte Sache. Es ist schwierig, sich immer so schuldig fühlen – in Opernproben, dass ich so viel Mutter bin, und andererseits bei der Zeit mit der Familie, dass man zu sehr Regisseurin ist.

Opernregisseurin Lydia Steier: „Ich sage alles zu“

Haben Sie Angst vor der Sehnsucht nach der Droge Macht? Ich frage, weil hier kürzlich die Premiere von „Boris Godunov“ an der Staatsoper gezeigt wurde, inszeniert von Frank Castorf, der wohl eine spezielle Arbeits-Handschrift hat. Und man kommt wahrscheinlich schnell in die verführerische Situation, in der man sich als Regisseur für den Vertreter Gottes auf einer Probebühne halten kann.

Es gibt eine neue Realität im Bereich der Opernregie. Ich bin hochgekommen in einer Zeit, in der man ständig angeschrieben wurde. Wenn ich damals als Hospitantin nur einmal am Tag zum Heulen gebracht wurde, war das ein geiler Tag. Dieses Ausflippen, dieses Rummarschieren, Brüllen und Menschen vernichten, das existiert nicht mehr. Man wird ziemlich schnell abgemahnt, wenn man sich auf einer Probebühne cholerisch zeigt. Jetzt gibt es viel mehr Zusammenarbeit. Und egal, wie großartig oder berühmt die Sänger sind: Wir sind alle große Nerds.

Was fällt ihnen leichter: eine angebotene Produktion zuzusagen oder so eine Produktion abzusagen?

Ich sage alles zu. Sobald ich von einem Stück höre und etwas recherchiere, denke ich: Das ist geil, das mach ich. Inzwischen muss ich aber etwas mehr Zeit investieren, um zu sehen, ob es wirklich etwas für mich ist.

Und was ist mit einer zweiten Version eines Stücks?

Ich verstehe nicht, wie Menschen eine zweite Inszenierung von einer Produktion machen können. Mein Gefühl, wenn ich ein Stück inszeniere, ist: I cracked the code, es kann nur so gemacht werden.

Welche Opern würden Sie Neulingen zum Reinkommen empfehlen?

„La Bohème“ wäre tatsächlich eine, die ist flüssig, macht Spaß und hat gebrochene Herzen. „Butterfly“ hat ebenso dieses emotionale Achterbahnding, und dazu Musik, die wirklich eingängig ist. Auch „Lady Macbeth von Mzensk“ würde ich empfehlen, weil das so geile Musik ist und eine so saftige böse Geschichte, die ist unschlagbar geil. Vielleicht nicht sofort eine Händel-Oper. Oder „Fliegender Holländer“? Der ist kurz, im Vergleich zu anderen Wagner-Opern, und hat eine sehr fette Musik.

Opernregisseurin Lydia Steier: „Das ist das Beste auf der Welt“

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Entweder irgendwo als Boss, oder ich mache etwas ganz anderes, Filmemacherin oder Autorin. Es ist alles offen. Momentan ist eine komische Situation: Alle reden wild darüber, was aus der Oper wird, über Publikumsschwund, steigende Kosten. Ein heikler Moment, und ich bin froh, Teil dieses Dialogs zu sein.

Ich hätte da einen Vorschlag: Chefin bei den Festspielen in Bayreuth.

Oh, wow…! Na ja. Festivalbetrieb ist eine super Sache. Aber die haben es da echt nicht leicht. Die Erwartung dort sind knochenerschütternd.

Letzte Frage, um auf das Thema Liebe zurückzukommen: Haben Sie Angst davor, sich von diesem sehr sonderbaren Beruf irgendwann mal zu entlieben?

Manchmal macht diese Branche wenig Spaß. Und manchmal ist es deprimierend, dass alles, was ich mit einem Stück machen möchte, auch wenn es genial ist, nur abhängig von den Menschen in meiner Umgebung ist. Wenn ein Tenor sagt, das mache ich nicht, fällt alles auseinander. Manchmal gibt es diese Momente, in denen ich es am liebsten nicht mehr machen möchte. Aber was mich immer wieder zurückbringt: Dass ich, seit ich „Amadeus“ gesehen habe, verliebt bin in die Musik. Auch wenn ich sage: Mir doch egal, Oper, das war’s jetzt – eine Woche später, wenn ich nur etwas höre, auch ohne Chorlisten zu schreiben oder Szenarien, dann bin ich immer wieder, wie ein Kind, verliebt.

Und dann gehen Sie wieder auf eine Probebühne, da riecht es nach Oper und sie können nicht mehr anders.

Ja, und besonders, wenn das Orchester da ist und man das Ganze hat, wenn man diese wunderbare, unmögliche Maschine laufen sieht – das ist das Beste auf der Welt.