Hamburg. „Anti-Fashion“ in der Sammlung Falckenberg präsentiert berühmte Serien der amerikanischen Fotografin mit Hang zur Selbstinszenierung.

Die Deichtorhallen sind bekannt dafür, zu ihren Ausstellungseröffnungen auch die entsprechenden Künstlerinnen oder Künstler dazuzuladen. Fast erwartet man es mittlerweile schon. Dass zur Eröffnung von „Anti-Fashion“ in der Sammlung Falckenberg Cindy Sherman nicht anwesend war, war dennoch keine Überraschung: Die amerikanische Fotografin, Jahrgang 1954, gilt als äußerst scheu und zurückhaltend, persönliche Interviews gebe sie gar nicht, heißt es aus der Pressestelle der Deichtorhallen. Kurios ist, dass man meint, sie dennoch zu kennen. Denn ein Element, das sich durch fast all ihre Fotografien zieht, sind ihre Augen, die die Betrachter direkt, mal augenzwinkernd, mal lasziv aus den Fotografien anblicken – egal, ob sie ein Partygirl, einen Dandy oder Clown zeigen.

Cindy Sherman ist eine der berühmtesten zeitgenössischen Fotografinnen – und sie ist die Meisterin der Selbstinszenierung. Indem sie in verschiedene Rollen schlüpft, oft mit extremem Make-up und auffallend kostümiert, geht sie der Frage nach, wie sich das Ich erfindet und wie Frauen dargestellt werden in Medien, Werbeanzeigen, Filmen und Modemagazinen.

Das Thema Mode ist für sie Ausgangspunkt ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Identität, Geschlecht, Alter und dem Jugendlichkeits- und Schönheitswahn, dem Frauen seit Jahrzehnten unterworfen sind. Die Sammlung Falckenberg würdigt ihre Arbeit mit der Retrospektive „Anti-Fashion“ und zeigt 50 Bilder aus knapp 50 Jahren Schaffenszeit. Ergänzt werden diese mit Werken von John Baldessari, Monica Bonvicini, Richard Prince und Robert Longo aus der Sammlung, deren Gründer Harald Falckenberg am 5. Oktober seinen 80. Geburtstag feierte.

Ausstellung Hamburg: Cindy Sherman, seit 50 Jahren Rebellin und Motor der Modewelt

Shermans populären „Untitled Film Stills“ aus dem Jahr 1977, Schwarz-Weiß-Porträts, in denen die Künstlerin Frauenfiguren aus Hollywoodfilmen, B-Movies und dem Genre Film noir adaptierte, werden nicht gezeigt. Dafür begegnen einem im Erdgeschoss die frühsten Werke der Künstlerin aus der Mitte der 1970er-Jahre: In dem Video „Doll Clothes“ tritt Sherman als papierne Anziehpuppe auf; in „Cover Girls“ friert sie die Gesichter der Models auf Hochglanzzeitschriften ein und ersetzt sie durch ihr eigenes. In beiden Arbeiten wird bereits das ambivalente Verhältnis der Fotografin zur Welt des Glamours deutlich, das sich in künftigen Serien fortsetzt.

Bei aller Kritik wurde Sherman auch zur Komplizin der Modewelt, Anfang der 1980er-Jahre erhielt sie den ersten offiziellen Auftrag für ein Werbeshooting der New Yorker Unternehmerin Dianne Benson, bei dem sie sich in Kleidern von Issey Miyake und Jean-Charles des Castelbajac fotografieren ließ. Es folgten weitere Jobs – und ein Skandal: Die hochwertige Wollkollektion der französischen Firma Dorothée Bis präsentierte Sherman an bizarren, mit Blut beschmierten Modellen; die Veröffentlichung in der Pariser „Vogue“ wurde wegen geschäftsschädigender Wirkung vom Unternehmen verhindert.

Es soll einen riesigen Fundus aus Kostümen und Perücken geben

Mit ihrer Anti-Werbung nahm Sherman Strömungen wie Radical Fashion und Heroin Chic vorweg, ebnete den Weg für unkonventionelle Perspektiven, indem sie mit den gängigen Schönheitsnormen brach. Models mit zersausten Haaren, ausgemergelten Gesichtern, künstlichen Gelenken, androgyne Typen – was aus heutiger Sicht selbstverständlich wirkt, war vor gut 30 Jahren noch keinesfalls gängig. Cindy Sherman kann also als Motor der Modewelt bezeichnet werden. Ab den 1990er-Jahren wurde ihre Arbeit zunehmend wertgeschätzt, sie veröffentlichte in allen großen Modemagazinen und wurde etwa von der Designerin Rei Kawakubo für eine Kampagne der Marke Comme des Garçons gebucht.

Werk „Untitled #133“ von Cindy Sherman in der Ausstellung „Anti-Fashion“ in der Sammlung Falckenberg.
Werk „Untitled #133“ von Cindy Sherman in der Ausstellung „Anti-Fashion“ in der Sammlung Falckenberg. © DPA Images | Marcus Brandt

Darüber, wie die Künstlerin arbeitet, ist wenig bekannt. Aber sie soll einen riesigen Fundus aus Kostümen und Accessoires, Perücken und Prothesen in New York haben, aus dem sie sich bedient. Zudem stehen ihr durch die Zusammenarbeit mit Designern Teile der aktuellen Kollektionen zur Verfügung, allerdings in den bekannten Modelkonfektionsgrößen, die wiederum an der Fotografin gequetscht und eingeschnürt wirken. In der zweiten Etage der Sammlung sind mehrere Werke der Serie „Men“ aus den Jahren 2019/20 gehängt. Sie entstand für die erste Männerkollektion der britischen Designerin Stella McCartney. Hierfür konterkarierte Sherman typisch männliche Posen an Frauen und Männern, die sich so einander annähern und die Grenzen zwischen den Geschlechtern auflösen.

Ausstellung Hamburg: Sherman durfte mit historischen Chanel-Kostümen arbeiten

Zuvor wurde die Mode-Rebellin schon mit zwei Ehren geadelt: Sie durfte mit historischen Chanel-Kostümen arbeiten, woraus ihre Serie „Landscapes“ (2010–2012) hervorging. 2016 erschienen erstmals Arbeiten der Künstlerin auf einem Titelbild eines Modemagazins: Für die Collector’s Edition der amerikanischen „Harper’s Bazaar“ produzierte sie fünf Motive. Die Serie „Twirl Project“ zielt auf die egozentrischen Inszenierungen von sogenannten Street-Style-Stars ab. Diese in Gucci und Marc Jacobs gekleideten Fashionistas setzte Sherman mithilfe digitaler Bildbearbeitung in stille, menschenleere Stadtansichten und Parks, was sie verloren und fehlplatziert wirken ließ. Und wiederum die Absurdität der schillernden Modewelt, allerdings in einem Modemagazin, ausdrückte.

Arbeit aus der Serie „Twirl Project“ von Cindy Sherman. Darin spielt sie mit der Selbstinszenierung von Fashionistas.
Arbeit aus der Serie „Twirl Project“ von Cindy Sherman. Darin spielt sie mit der Selbstinszenierung von Fashionistas. © DPA Images | Marcus Brandt

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Mit den Bildern dieser Serie scheint Cindy Sherman an einem Endpunkt ihres künstlerischen Schaffens angekommen. Denn ihre Charaktere wirken vor dem heutigen Hintergrund der geschönten Selbstdarstellungen bei Instagram und Co. nicht mehr inszeniert und schon gar nicht kritisch oder gar provokativ. Das schmälert ihre Arbeit nicht, die nun seit knapp 50 Jahren die Mode- und Kunstwelt bereichert und antreibt. In Zeiten der viel diskutierten künstlichen Intelligenz stünden ihr künftig natürlich ganz andere, unbegrenzte Möglichkeiten des Verkleidens und Inszenierens vor allen denkbaren Hintergründen zur Verfügung. Aber möchte man sich das vorstellen? Eigentlich nicht.

„Cindy Sherman. Anti-Fashion“ 7.10.–3.3.2024, Sammlung Falckenberg in den Phoenix-Fabrikhallen, Wilstorfer Straße 71, Tor 2 (S Harburg), Sa/So 12.00–17.00, Eintritt frei, daneben 90-minütige Führungen nach Anmeldung unter tickets.deichtorhallen.de, 12,-/9,- (erm.), sammlung-falckenberg.de