Hamburg. Der Kunstverein in Hamburg überrascht mit der ersten Einzelschau der preisgekrönten Künstlerin Ima-Abasi Okon in Deutschland.

Whitney Houstons Refrain aus „It‘s all in me“ ist das Erste, was beim Betreten des Kunstvereins entgegenschallt. Wie ein Zauberstaub des Pop legt er sich in Dauerschleife über eine recht leere untere Ausstellungsfläche. An den weißen Wänden sind Spanplatten angebracht, mit edlem Holz gerahmt und Mahagonipolitur behandelt. Darauf haben vier Künstlerinnen und Künstler Fotografien ihrer Arbeiten und darunter die Lizenzverträge gehängt, die die Basis der Zusammenarbeit mit Ima-Abasi Okon bilden.

Sie hat die Gruppenausstellung „S.t.a.n.d.a.r.d. Pr.a.c.t.i.c.e.“ am Klosterwall initiiert. Darin geht es um Vermarktungsmechanismen der zeitgenössischen Kunst, darum, wie Minderheiten in den Mainstream gelangen und wie sie ausgebeutet werden. So schließt sich der Kreis zur Popdiva: Whitney Houston, die schwarze Sängerin und Schauspielerin, die ihre individuellen Bedürfnisse einer sagenhaften Karriere unterordnete und nach vielen persönlichen Schicksalsschlägen 2012 so tragisch verstarb.

Kunst in Hamburg: Ima-Abasi Okon – eine Künstlerin, die sich dem Kunstmarkt entzieht

Der Kunstverein in Hamburg präsentiert die erste Einzelausstellung der britischen Installationskünstlerin Ima-Abasi Okon, Jahrgang 1981, in Deutschland. Die Turner-Prize-Stipendiatin studierte Illustration und Kommunikationsdesign am London College of Communication und Central Saint Martins College. Sie macht nur alle paar Jahre eine Ausstellung, ist aber weltweit gefragt. Sie wurde mit dem Henry Moore Award ausgezeichnet, stand 2020 auf der Shortlist des Zurich Art Prize, verweigert aber die Bindung an eine Galerie. Okon lebt und arbeitet abwechselnd in Amsterdam und London und lehrt an der Zurich University of Arts sowie am De Ateliers in Amsterdam.

Die Künstlerin war bei der Ausstellungseröffnung in Hamburg im Publikum, äußerte sich aber nicht dazu. Diese Absenz ist Teil des künstlerischen Konzepts. Es entzieht sich dem Wunsch nach Verknüpfung von Künstlerbiografie und Werk, einer bestimmten Lesart und Interpretation. Vielmehr soll das Publikum sich Okons Werke „wie Bausteine selbst zusammensetzen und so zu einer Deutung kommen“, sagt Milan Ther.

Kunst in Hamburg: Britin zeigt aufwändige Installation mit Palmöl, Cognac und Morphium

Der Direktor des Kunstvereins hatte 2019 eine Installation der Künstlerin in der Londoner Chisenhale Gallery gesehen und war davon tief beeindruckt: Für „Infinite Slippage: nonRepugnant Insolvencies T!-a!-r!-r!-y!-i!-n!-g! as Hand Claps of M’s Hard’Loved’Flesh [I’M irreducibly-undone because] —Quantum Leanage-Complex-Dub“ zog sie eine modellierte Decke unter die ursprüngliche Raumdecke und bestrich diese mit einer unsichtbaren Masse aus Morphin, Insulin, Ultrasound-Gel und Gold. Vier handgefertigte Glaslichter, mit Palmöl und Courvoisier-Cognac gefüllt, versprühten Goldstaub im Raum. Währenddessen liefen elf industrielle, an einer Wand befestigte Klimaanlagen; eine verlangsamte Klangschleife mit verschiedenen Rhythmen und Geschwindigkeiten beschallte den Galerieraum.

Seit 2019 sei er im Gespräch mit der Künstlerin über eine gemeinsame Ausstellung gewesen, so Ther. „Ich bin nun überglücklich, sie in Hamburg zu haben.“ Ebenso wie „Infinite Slippage“ (Titel abgekürzt) soll auch die Einzelausstellung im oberen Stockwerk des Kunstvereins „auf die präventive und palliative Pflege als wesentliche Praxis für die Ausdauer und den Erhalt des Lebens im beschleunigten kolonialen Kapitalismus“ verweisen.

Palmen in Hamburg: Besucher beim Betreten des Raumes zu Tränen gerührt

Die eigens für diesen Ort entwickelte Auftragsarbeit besteht aus drei schmiedeeisernen Balkonen, die an der 40 Meter langen nach Westen ausgerichteten Fensterfront montiert sind. Dahinter wogen auf vier riesigen Monitoren in Los Angeles aufgenommene Palmen. Sie bilden einen neuen Horizont für das Gebäude, das in Richtung Speicherstadt blickt. Aus zwei handgefertigten Leslie-Lautsprechern in der Mitte des Raumes dröhnt ein gut elf Minuten langer orgelartiger R&B-Sound.

Einige Besucherinnen und Besucher hätten angefangen zu weinen beim Betreten des Raumes, erzählt Ther. Die Sinnlichkeit, die hier erzeugt wird, ist eine von vielen Rezeptionsebenen. Die Palmen, die sich im Wind wiegen oder synchron am Ende der Klangschleife auf Sonnenuntergangs-Idyll schalten, können spontan mit Urlaub und Erholung assoziiert werden. Die originär nicht in den USA beheimateten Pflanzen können aber ebenso als weißer Luxus interpretiert werden, die Balkone nicht als bloßes Dekor, sondern als Instrument von Abschottung betrachtet werden.

Kunstverein Hamburg: Mutterkultur wird nach Ende der Ausstellung zu Getränk

Unter den Monitoren wurden Arbeiterjacken über Rohren zusammengeknotet, an deren Ärmeln Garmin-Forerunner-Uhren befestigt sind. Die Uhren dienen dazu, biometrische Daten und Produktivität zu messen – nur dass es hier nichts zu messen und somit auch nichts zu optimieren gibt: eine leise Kritik am Selbstoptimierungs- und Kontrollwahn unserer heutigen Zeit.

Im Inneren der Lautsprecher braut während der gesamten Ausstellungslaufzeit eine sogenannte Mutterkultur aus Bakterien und Hefe. Aufgrund ihres aeroben Charakters nehmen die Kulturen die Luft auf, die vom Vibrieren der Lautsprecher erzeugt wird. Musik und Milieu im Kunstverein verbinden sich also in diesem Gemisch. Daraus wird die Künstlerin nach Beendigung der Ausstellung ein Getränk herstellen.

Ima-Abasi Okons im Kunstverein Hamburg: Sprachliche Poesie ist emotional und vielschichtig

Neben den Lautsprechern sind auf einem Bambusstuhl vakuumverschlossene Plastikbeutel mit zunächst undefinierbarem Inhalt gelagert. Es handelt sich dabei um dehydrierten Ochsenschwanzeintopf, ein in der jamaikanischen Kultur traditionelles Gericht, wobei die Künstlerin es mit speziellen Heilkräutern versehen hat. An der Wand dahinter soll demnächst ein Hygienezertifikat eines Hamburger Instituts gerahmt hängen. Somit dürfte der Eintopf innerhalb Deutschlands auch als Nahrungsmittel vertrieben werden. Wo ist die Grenze zur Kunst zu ziehen? Und wie beeinflusst unsere kulturelle Zugehörigkeit die Bewertung dieser Objekte?

Okons Arbeiten sind in viele Richtungen offen, sie sind vielschichtig, können oberflächlich betrachtet oder in die Tiefe gehend analysiert werden. Zur selben Zeit sind sie sehr emotional. In ihren raumgreifenden Werken aus Skulptur, Ton und Film entwickelt sie eine ganz eigene sprachliche Poesie, mit der sie ihr Publikum ermutigt, innezuhalten und über Ursprung und Wertigkeit von Materialien nachzudenken.

Mehr zum Thema

Die britische Journalistin Eva Kenny schrieb 2020 im Kunstmagazin „Frieze“: „Ima-Abasi Okon zerstört den Mythos des Künstlers.“ Die zeitgenössische Kunst befindet sich in einem gewaltigen Kulturwandel: weg vom singulär arbeitenden Genius, hin zur Kulturproduktion vieler, die wiederum auch die Teilhabe vieler ermöglicht. Für Milan Ther steht Ima-Abasi Okon „für eine Kunst, die auf das Leben verweist als Ort, in dem unterschiedliche Kosmen zwischen Sprache, Bildern und Sound, zwischen Historie, Gegenwart und Zukunft überlappen und neue Formen des Verständnisses, neue Möglichkeiten und Widerständigkeit verlangen“.

Ima-Abasi Okon im Kunstverein in Hamburg, bis 7.1.2024, Klosterwall 23 (U Steinstraße), Di–So 12.00–18.00, Eintritt 5,-/3,- (erm.), nächste öffentliche Führung am 28.9., 17.00, www.kunstverein.de