Hamburg. „Beklemmend aktuell“: Wie der gesellschaftskritische Künstler der Moderne bis heute wirkt, zeigt eine umfangreiche Ausstellung
„Meine Bilder existieren und werden wahrscheinlich bis auf Weiteres das böse Gewissen aller Kunsthändler, Ästheten, Expressionisten und anderer alter Tanten und Gänse sein.“ Dieser von Otto Dix (1891–1969) geäußerte bissige Satz, er wirkt aus heutiger Sicht beinahe prophetisch. Denn an seinen hässlich-lauten Großstadtmilieus und bis zur Fratze verzerrten Menschenporträts stoßen sich viele auch heute noch. Und sind zur selben Zeit von den Sittenbildern dieses großen Moderne-Künstlers fasziniert. Gut 100 Jahre sind vergangen seit dem Zitat. Und Dix erscheint uns zeitgemäßer denn je. Dies greift die umfassende Ausstellung „Dix und die Gegenwart“ im Haus für aktuelle Kunst auf.
„Beklemmend aktuell“, antwortet Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow auf die Frage wie er die Ausstellung mit vier Worten beschreiben würde. Und gleich darauf: „sehr schön“. Durch seine Erfahrung als Soldat im Ersten Weltkrieg wurde Dix zum Chronisten seiner Zeit; er zeichnete die Menschen schonungslos, ungeschminkt in ihrer Einsamkeit, Verletztheit und Verwahrlosung, was ihn – bei allem Erfolg, den er in den 1920er-Jahren bereits hatte –, auch immer wieder anecken ließ. Und 1933 nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten zu seinem Ausschluss als Professor für Malerei an der Dresdner Akademie und zur öffentlichen Verfemung als „entarteter“ Künstler führte.
„Dix und die Gegenwart“ in den Deichtorhallen
„Der Künstler stemmte sich nicht nur damals gegen das Idealbild der Nationalsozialisten“, so Luckow. „Auch heute kann man ihn als kritischen Kontrapunkt zum allgegenwärtigen Schönheits- und Optimierungswahn, vor allem in den sozialen Medien, betrachten, denn er scheute sich nicht davor, die Menschen so zu zeigen, wie sie sind.“ Warum die Ausstellung auch sehr schön sei? Weil sie zeige, wie viele Künstlerinnen und Künstler nach ihm sein Weltbild, mit dem Dix sich unbeirrt den Konflikten und Krisen seiner Zeit entgegenstellte, teilen. „Dix und die Gegenwart“ zeigt 50 zeitgenössische Positionen, die in einen spannenden Austausch treten, etwa mit Werken von Marina Abramović, Georg Baselitz, Lucien Freud, Nan Goldin, Paul McCarthy, Alice Neel und Cindy Sherman.
Die Ausstellung ist nicht die einzige Referenz an Dix‘ Ära. In der Kunsthalle lief bis vor Kurzem die Ausstellung „1923. Gesichter einer Zeit“; im Museum für Hamburgische Geschichte wurde gerade die Schau „Hamburg 1923. Die bedrohte Stadt“ eröffnet. Am Wochenende folgt das Ernst Barlach Haus mit „Illustre Gäste“ und den Künstlern Dix, Grosz, Barlach und Klee. Es mag an der Parallelität der zeitlichen Ereignisse liegen: Ebenso wie 1923 ist 2023 ein Krisenjahr – mit dem Krieg in der Ukraine, politischen Querelen und wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit.
Drastisch und schonungslos: die Kriegsbilder von Otto Dix
Und so begegnet einem auch gleich ein Fotozyklus dunkler städtischer Tristesse, in der sich Mensch und Tier verirren oder verlieren; er stammt von dem Berliner Fotografen Tobias Zielony, seit Kurzem Professor für künstlerische Fotografie an der HfbK. Für „Electricity/Afterimages“ (2023) hat Zielony subkulturelle Milieus in Moldau im Zuge der Energiekrise porträtiert. Er befasst sich in seinen Arbeiten mit der Dunkelheit als physisches, soziales und metaphorisches Phänomen. Daneben hängt Dix‘ Triptychon „Großstadt“ (1927/28): Hier treffen pulsierendes Leben und gesellschaftlicher Verfall, durch den Krieg verkrüppelte Männer und bourgeoise Damen in Abendroben aufeinander.
Interessant ist, dass bei aller Modernität Dix‘ Technik an den alten Meistern angelehnt war. Dies veranschaulicht sein „Bildnis Frau Rosa Eberl“ (1940), worauf die Künstlerin Simone Haack mit ihrer „Lady in Furs“ (2017) und der Australier Ron Mueck mit seiner Mixed-Media-Skulptur „Woman with Shopping“ (2013/2015) antwortet – und einem beim Blick ins (blut-)leere Gesicht der Frau, die vor sich unter dem Mantel einen Säugling trägt, schaudert. Drastisch und schonungslos geht es weiter in die hinteren Hallen, sie sind den Kriegsbildern von Otto Dix gewidmet („Flandern“, 1934/36; „Der Krieg, Triptychon mit Predella“, 1929–32), werden aber dominiert von zwei riesigen Ölgemälden von Anselm Kiefer, vor allem „Am letzten Tor (Pour Paul Celan)“, 2020/21, beeindruckt durch seine finstere Dynamik.
Von dort wird der Blick nach links in einen weiteren Raum gelenkt; dort prangt das Schwarz-Weiß-Plakat von Katharina Sieverding „Deutschland wird deutscher“ aus dem Jahr 1992. Dies ist, neben der Vielzahl an namhaften Werken und der klugen Kombination dieser, die ganz große Stärke der Ausstellung: Für die Dix-Schau hat Kuratorin und Dix-Expertin Ina Jessen die räumlichen Dimensionen bestmöglich ausgelotet, um spannende und immer wieder überraschende Sichtachsen zu erzeugen. Inhaltlich sind Jessen zwei Brüche in der Biografie des Künstlers wichtig: das Schicksalsjahr 1933, das seinen Umzug von Berlin und Dresden an den Bodensee bedeutete, in dem sich Dix von den großstädtischen Szenen und Porträts verabschiedete und stattdessen Landschaften sowie allegorische und religiöse Themen malte.
Auch dazu gibt es ein treffendes, allerdings undatiertes Zitat vom Künstler: „Ein schönes Paradies. Zum Kotzen schön (...) ich müsste in der Großstadt sein. Ich stehe vor der Landschaft wie eine Kuh.“ Und doch verpackte der Maler „darin nach wie vor Kritik an seiner Zeit, nur eben versteckter“, so die Kuratorin. Ein Beispiel dafür ist sein Gemälde „Gewitter im Riesengebirge“ (1935), das mit „Red Forest“ (2022) von Nicholas Party apokalyptisch auf damalige wie heutige Zustände verweist.
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Der zweite Bruch, Dix‘ Schaffen für sein expressives, farbintensives Spätwerk nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wird in der Ausstellung präsentiert. Obwohl es zu seinen Lebzeiten wenig Beachtung fand, erhielt Dix dennoch Anerkennung und verschiedene Preise, einschließlich des Großen Bundesverdienstkreuzes. Und er malte bis zu seinem Tod immer weiter.
„Dix und die Gegenwart“ 30.9.2023 bis 25.2.2024, Halle für aktuelle Kunst, Deichtorstraße 1-2, Di–So 11.00–18.00, Eintritt 12,-/7,- (erm.), deichtorhallen.de. Das Dixitorial, Hintergründe zu Werken und Künstlern anhand von Audios, Videos und Texten, ist per QR-Code in der Ausstellung und über die Website zugänglich.