Hamburg. 2021 war Charlotte Gneuß Stipendiatin im Willemsen-Haus. Jetzt ist eine Debatte um ihr Debüt entbrannt. Wer darf über was schreiben?
Die Nachgeborenen sind jetzt dran. Kann man doch einfach mal so sagen. Es muss so sein. Oder wird in 50, 60 Jahren, wenn die letzten in der DDR Geborenen sterben, überhaupt niemand mehr über den einstigen anderen deutschen Staat schreiben dürfen? Charlotte Gneuß ist 1992 in Ludwigsburg geboren und hat eines der überzeugendsten Bücher in dieser literarischen Spätsaison vorgelegt. „Gittersee“ stand folgerichtig auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Gerade erst entbrannte aber ein Streit um dieses Debüt, bei dem man nur mit den Augen rollen konnte. Es stellte sich nämlich für manche die Frage, ob die in den 1970er-Jahren spielende Geschichte um die 16-jährige Karin, deren Freund Paul Republikflucht begangen hat, denn tatsächlich authentisch sein könne. Wenn sie von einer Autorin stamme, die nie in der DDR gelebt habe. Ganz einfach, weil sie erst nach der Wende geboren wurde. Dazu muss man wissen: Gneuß‘ Eltern sind in der DDR sozialisiert, sie selbst lebte auch in Dresden. Gittersee ist ein Vorort der sächsischen Metropole.
Roman „Gittersee“: Der Stasi-Mann wanzt sich an die Minderjährige heran
Gneuß, die zuletzt Stipendiatin im mare-Künstlerhaus der Roger Willemsen Stiftung in Wentorf war, beschreibt in ihrem nicht zuletzt überaus spannenden Roman, wie ihre jugendliche Heldin unter erschwerten Diktaturbedingungen aufwächst. Der Vater trinkt zu viel, die junge Mutter will ihre Jugend nachholen, eine Art Nazi-Oma gibt es auch, die das Desertieren ihres Mannes durch doppelten Einsatz wettzumachen suchte. Karin kümmert sich um ihre kleine Schwester, eine im Grunde zu frühe Verantwortung.
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Es wird noch viel mehr von ihr verlangt, als sich der Stasi-Mann Wickwalz an sie heranwanzt. Karin weiß zu Anfang nicht mehr als er über das Schicksal ihrer ersten Liebe Paul. Das ändert sich, und sie gerät in große Loyalitätskonflikte. Sie habe einen Roman über eine Heldin schreiben wollen, die stellvertretend für die vielen noch nicht erwachsenen Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit steht, hat Gneuß über ihr Debüt gesagt. Das ist ihr eindrucksvoll gelungen.
Selbst ohne den DDR-Überbau wäre „Gittersee“ ein klug komponierter, mit erheblichen Spannungsmomenten gefügter Stoff. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Aber genau der Überbau ist es, der nun Kritiker auf den Plan rief. Der angesehene Ost-Schriftsteller Ingo Schulze hat dem Vernehmen nach auf Ersuchen des Fischer-Verlages, der auch der Verlag von Charlotte Gneuß ist, eine Mängelliste erstellt, die auf historische Akkuratesse zielt. Da soll es etwa um die Frage gegangen sein, ob man denn damals in der Elbe habe schwimmen können. Die Protagonisten des Romans haben das jedenfalls. Vielleicht war ihnen ja egal, dass der Fluss eine Dreckbrühe war, kann ja sein.
Blöd war, dass der Vorgang um die Mängelliste öffentlich wurde. Weil Gneuß damit nun mit dem Brandmal „Die weiß nicht, worüber sie schreibt“ geschlagen ist. Zumindest für die, die den Mode-Vorwurf „Kulturelle Aneignung“ gar zu leicht im Munde führen. Richtig ist wohl, dass Gneuß einige der Änderungsvorschläge übernahm, andere nicht. Auch weil absolute geschichtliche Detailtreue nicht unbedingt etwas über die Wahrhaftigkeit eines Romans aussagen muss.
In Hamburg kann man die Autorin, die unlängst bereits am Schwanenwik zu Gast war, nun in der Literaturhaus-Reihe „Debuts & Drinks“ im Aalhaus erleben. Dort könnte die Autorin selbst darüber Auskunft geben, wie sie ihr Hineingeraten in Debatten wie diese – mit der in diesem Fall überholten Frage, ob sie eigentlich Ost- oder Westautorin sei– und den Streitfall, wer über was schreiben darf, derzeit wahrnimmt.
Debuts & Drinks mit Charlotte Gneuß und Beliban zu Stolberg am 28.9. im Aalhaus, Beginn 19 Uhr.