Wentorf. Kreativ und frei dürfen Nachwuchskünstler in der einstigen Villa des Publizisten und Moderators sein. Wie es drinnen aussieht.

„Diese Ruhe hier ist unglaublich. Das Haus macht es einem leicht, anzukommen und sich wohlzufühlen“, sagt Saskia Warzecha. Vor sechs Tagen zog die 34 Jahre alte Lyrikerin aus Potsdam in die weiße Villa am Mühlenteich. Sie ist die 47. Stipendiatin der Roger Willemsen Stiftung und darf nun vier Wochen in dem einstigen Wohnhaus des bekannten Publizisten, Moderators und Filmproduzenten wohnen und kreativ arbeiten. Willemsen starb 2016 im Alter von 60 Jahren.

Die rund 400 Quadratmeter auf vier Ebenen teilt sie sich mit einer zweiten Stipendiatin, der Künstlerin, Illustratorin und Autorin Greta von Richthofen aus Wien sowie der freischaffenden Künstlerin Annette Schiedeck. Letztere lebt permanent in der Villa, empfängt, begleitet, verabschiedet die Stipendiaten. Und die 44-Jährige lässt den Geist Roger Willemsens jeden Tag wieder aufleben. „Roger war ein Menschenfreund, der stets neugierig auf sein Gegenüber war und die Gabe hatte, den anderen zu sehen und sich Zeit für ihn zu nehmen“, erzählt Schiedeck. Das habe sie an ihm bewundert. Sie empfängt Besucher ebenso freundlich und offen, wie es ihr Freund Roger Willemsen getan hätte. Mit ihm zusammen war die gelernte Goldschmiedin auf Lesetour, er nahm sie mit zur Besichtigung der malerisch gelegenen Villa mit Blick auf den Mühlenteich.

Besondere Immobilie in Wentorf: So fand Roger Willemsen das Haus

An diesen Holztisch lud Roger Willemsen oft seine Freunde ein. Er steht heute im Künstlerhaus.
An diesen Holztisch lud Roger Willemsen oft seine Freunde ein. Er steht heute im Künstlerhaus. © BGZ | Undine Gerullis

„Es war ein Zufallsfund. Roger spazierte hier im Sommer 2015 vorbei, sah das zum Verkauf stehende Haus und hat sich sofort verliebt“, erzählt Schiedeck. „Vor allem die Nähe zum Wald hatte es ihm angetan, war er doch selbst am Wald in Bonn aufgewachsen“, erzählt sie. Jahrzehntelang war die Villa von 1889 ein Kinderheim, danach bewohnte sie eine Familie mit fünf Kindern.

Anfang des Jahres 2016 zog Roger Willemsen in das Haus mit den vielen Zimmern, die Annette Schideck bis heute nicht gezählt hat. Die knorrige alte Eiche, die vor dem Küchenfenster steht, mochte er sehr gern und sie erinnerte ihn an japanische Scherenschnitte, erzählt Schiedeck. „Zu gern hätte er sie im Frühling grün und im Herbst ihr Laub abwerfen sehen.“

Kurz nach dem Einzug in die besondere Immobilie starb Roger Willemsen

Doch nur wenige Wochen nach dem Einzug starb Roger Willemsen nach kurzer, schwerer Krankheit in seinem neuen Zuhause. Kurz vor seinem Tod entstand zusammen mit seinen Freunden die Idee, die Villa mit den lichtdurchfluteten, hellen Räumen zu einem Haus zu machen, in dem Nachwuchskünstler aller Sparten frei arbeiten können. Die Umsetzung ermöglichte sein Freund und Verleger Nikolaus Gelpke, dessen Mareverlag das Haus kaufte. Seitdem heißt es Mare-Künstlerhaus.

Bei der Vorstellung des Künstlerhauses war sogar Musiker und Freund Herbert Grönemeyer vor Ort. Im Mai 2018 zogen die ersten Stipendiaten ein. „Es war ihm wichtig, dass die Stipendiaten nichts abliefern, auf kein Ziel hinaus arbeiten müssen“, sagt Julia Wittgens, Stiftungsvorstand und langjährige Mitarbeiterin und Freundin Roger Willemsens. Er selbst wusste nur zu gut, dass diese Freiheit nötig ist, um kreativ sein zu können. Die Unterkunft ist frei, jeder Stipendiat erhält ein Taschengeld für Kost und Anreise. „Roger wusste, was er für ein Glück hatte, erfolgreich zu sein mit dem, was ihm viel bedeutete. Es gab aber auch andere Zeiten in seinem Leben, und er kannte die Existenzängste, die viele Kreative haben. Er aber hat sie in ihrem Lebensweg bestärkt“, sagt Schiedeck. Das tut sie nun in seinem Namen und ermutigt alle Stipendiaten, die in einer Schaffenskrise stecken.

Einige trauen sich kaum. an Willemsens Schreibtisch Platz zu nehmen

Lyrikerin Saskia Warzecha hat eines der beliebten Stipendien für das Mare-Künstlerhaus erhalten. Vier Wochen darf die Potsdamerin nun im einstigen Wohnhaus Roger Willemsens arbeiten, an seinem Schreibtisch sitzen und Gedichte schreiben oder in seinen Büchern lesen.
Lyrikerin Saskia Warzecha hat eines der beliebten Stipendien für das Mare-Künstlerhaus erhalten. Vier Wochen darf die Potsdamerin nun im einstigen Wohnhaus Roger Willemsens arbeiten, an seinem Schreibtisch sitzen und Gedichte schreiben oder in seinen Büchern lesen. © BGZ | Undine Gerullis

Einige haben große Ehrfurcht vor seinen Sachen, die überall im Haus zu finden sind, und trauen sich kaum, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Auch Stipendiatin Warzecha ist überwältigt von den vielen Tausend Büchern des feinsinnigen Intellektuellen. Es gibt zwei Bibliotheken. In einigen Büchern hat sie schon geblättert und viele neue Ideen gewonnen. Persönlich begegnet ist sie Roger Willemsen nie. „Aber sein Buch „Der Knacks“ hat mich bestärkt, mich meiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen und ein Zweitstudium für Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien aufzunehmen.“

Später wechselte sie an das renommierte Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, an dem schon viele bekannte Autoren – wie Juli Zeh – studiert haben. 2020 erschien Warzechas Debüt „Approximanten“.

„Roger hätte sich sehr darüber gefreut“, ist sich Schiedeck sicher. Genauso wie über das Album „Moon“ der jungen Musikerin und Komponistin Catharina Schorling, das während ihres Aufenthalts im Künstlerhaus entstanden ist.

Bis zu fünf Stipendiaten gleichzeitig dürfen einziehen

Bis zu fünf Stipendiaten gleichzeitig durften schon in der Villa wohnen und bis zu acht Wochen bleiben. „Man weiß nie, wie es wird, aber bislang war es immer schön“, sagt Schiedeck. Nicht selten entstehen Freundschaften, wenn die Autoren und Filmemacher, die bildenden Künstler und Musiker am großen Holztisch Roger Willemsens Platz nehmen und eine seiner zahlreichen Jazz- oder Klassik-CDs auflegen. Kein Wunder, dass es beim Abschied Tränen gibt und die Stipendiaten länger bleiben wollen.

Werbung machen muss die Stiftung für ihre Stipendien nicht, die sie zweimal im Jahr vergibt. Ende April endet die Bewerbungsfrist für Stipendien im Herbst und Winter 2022/2023. „Die Zahl der Bewerber steigt stetig“, freut sich Wittgens Bislang liegen rund 20 Bewerbungen vor. Wie viele Stipendien vergeben werden, hängt davon ab, wie viel Geld zusammenkommen. Neben dem Mareverlag und dem S. Fischer Verlag gibt es einige private Förderer. Nach zwei Pandemiejahren sind in diesem Sommer wieder öffentliche Kulturveranstaltungen im Garten geplant. Die Karten dafür sind begehrt.