Eine Künstlerin kommt für eine Deichtorhallen-Schau in die Heimat. Ist sie happy? Nö. Dabei gibt’s irgendwann für jeden Sonne.
Spötter könnten sagen, es gäbe so viele Bücher übers mittlere Alter, weil das eben auch die Zielgruppe ist. Die Älteren, ja, die lesen noch. Man könnte aber auch sagen, dass sich über sie ganz gute Geschichten erzählen lassen. Sie haben schon etwas erlebt. Aber sie hadern auch oft mit dem Älterwerden. Die anderen glänzen auf Instagram, sind so unverschämt jung. Und man selbst will noch mal was erleben, vielleicht umziehen, vielleicht Sex mit jemandem anderen als dem Ehemann haben.
Die Verluste sind triftig. Bei Jasmin Ramadan, die gerade mit „Auf Wiedersehen“ einen fulminanten Hamburg-Roman vorgelegt hat, verlieren sie ihre Würde. Manchmal aber viel wichtigeres, nämlich den Bruder. Und haben danach ein Loch in ihrer Seele.
Genau diese Konstellation begegnet einem nun wieder: in Can Mayaoglus Debütroman „Nadia“. Nadia Kartal ist das traurige, nervöse Zentrum dieser immerjungen Erzählung der alternden Heldin, die nach langer Zeit in ihre Heimat zurückkehrt. Die verlorene Tochter!
Neuer Hamburg-Roman „Nadia“: Die Verdüsterung des Herzens
„Nadia“ ist ein Buch der Verzweiflung, mit Inbrunst auf die Verdüsterungen des Herzens hin geschrieben. Ein Tableau weiblichen Schmerzes: Nadia ging aus Hamburg weg, um im Transit des ewigen Umherreisens zwischen den Metropolen ihre Wunden zu lecken. Sie ließ ihre große Liebe Rahel zurück, nahm aber die Trauer um ihre schon lange spurlos verschwundene Schwester Dilhan mit. Der widmet sie ihre weltweit erfolgreiche Ausstellung mit Gemälden, Installationen und Musik. Nach fünf Jahren soll die Rundreise der Schau enden – in den Deichtorhallen.
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Da setzt der Roman ein – mit einer Frau, die bereit ist für Blut, Schweiß und Tränen, um die Dämonen der Vergangenheit endgültig loszuwerden. Dabei muss sie erstmal mit dem Wetter klarkommen.
Wie die in Münster geborene Hamburgerin Mayaoglu ihrer Wahlheimat und deren Bewohnerinnen und Bewohnern gleich in den ersten Sätzen einen krachenden Tritt verpasst, ist ganz und gar nicht zurückhaltend.
Und natürlich sehr wahr: „Die Menschen in Hamburg wissen, dass sie fünf Monate im Jahr in Grau ertrinken. Was sich Mitte November wie ein temporäres Wetterübel am Himmel abzeichnet, entpuppt sich im Laufe des zähen nordischen Winters als himmlischer Dauergast. Im Februar hat es dann auch den letzten Optimisten dahingerafft: Die Stadt ersäuft in Winterdepressionen. Das Grau des Himmels ist den Menschen in die Seelen gesumpft, die dumpfe Lichtlosigkeit wabert in ihnen von morgens bis abends.“
Autorin Can Mayaoglu: Unglückliche Familien sind spannender als glückliche
Als Entree für die Seelenmalaisen der Heldin ist das perfekt. Wir begleiten die impulsive und gezeichnete Nadia, eine widerborstige Figur, keine Instant-Sympathieträgerin, bei den Vorbereitungen der finalen Schau und treffen mit ihr auf die Freunde von einst. Und das herzschmerzende Wiedersehen mit Rahel, deren Kinderwunsch der einstigen Beziehung mit Nadia nicht gut tat, ist ein dramatischer Höhepunkt dieses mit viel Dialog ausgestatteten Erzählwerks.
Klar, Reden erfüllt eine therapeutische Funktion: Und so sitzen Nadia und Minoo, die zweite, noch sehr anwesende Schwester, eine Psychologin, an der Elbe und weinen der Dritten im Bunde hinterher. „Nadia“ ist auch ein Roman über Drogen: Die dunkle Dilhan hing an der Nadel. Eine rettungslos Verlorene, ihre Geschwister kommen mit dem Leben, zu dem auch der Unfalltod der Eltern gehört, besser zurecht.
Ja, es gibt viel Elend in diesem Roman. Tragische Storys sind interessanter als fröhliche, unglückliche Familien spannender als glückliche. Aber die Sonne scheint selbst in Hamburg eigentlich mal für jeden – wenn man so will, ist „Nadia“ ein Entwicklungsroman, bei dessen Lektüre man der Heldin die Daumen drückt, dass sie wenigstens zeitweise von ihrem Leid erlöst wird.
Hamburg im Roman: Taxifahren durch vertraute Straßen
Rettung naht in Form einer Taxifahrerin, von der Nadia sich immer wieder durch die vertrauten Straßen chauffieren lässt, manchmal ziellos. Nur im Taxi kommt sie zu Ruhe. Die Taxifahrten als Metapher für das Nicht-Ankommen-Können: Can Mayaoglu gelingt, ihrem Text eine intensive Dringlichkeit zu geben. „Nadia“ ist ein Künstlerroman, in dem die Figuren mit kulturellem Kapital auf der Suche nach der verlorenen Zeit unterwegs sind. Es geht darum, sich seiner Vergangenheit zu stellen und zum Kern des Schmerzes vorzudringen, um ihn irgendwann, nach Möglichkeit, loszulassen. Vielleicht ist dieser Roman also wie ein Interpol-Song.
Aus der Zeit, in der die Postpunk-Band aus New York noch gut war. Konzertbesuche (Logo 2002!) und Erinnerungen an diese spielen eine große Rolle in diesem Buch, das also, so was aber, auch noch ein Poproman ist. Die Autorin hat jedem Kapitel den Songtitel einer ausschließlich weiblichen Playlist zugeordnet. Danke für den Soundtrack mit der sicher fantastischen Robyn und tollen Santigold; wir haben die Playlist dennoch mit Snail Mail, Soccer Mommy und Lana Del Rey erweitert. Die sind auch so schön traurig.