Hamburg. Die australische Poplegende ist immer noch entschieden fürs Ausgehen. The National hängen dagegen weiter zergrübelt daheim herum.
Kylie Minogue ist 55 Jahre alt. Sie sieht aus wie .... nicht 53; vielleicht einundvierzigeinhalb. Höchstens. Sie hat ein entspanntes Verhältnis zu Schönheitsoperationen, und das nicht erst seit gestern. Botox hat sie vor etlichen Jahren mal abgeschworen, ob sie dabei geblieben ist? Keine Ahnung. Ihr neues, inzwischen 15. Album „Tension“ ist in jedem Fall extrem straff geworden.
Gut durchtrainierte, pumpende Songs sind da drauf, Synthie-Dance-Pop für die Generation der Immer-19-Jährigen, also für alle von 19 bis 79. Uns fällt die Fachvokabel „EDM“ für den ganzen fröhlichen Hüpf-Pop ein, der einem entgegenschallt, wenn man Spotify schnell anwirft, um die ewige Kylie mal wieder zu spüren. Kyliepop ist der lebendigste, den man sich vorstellen kann, und niemand sollte daran zweifeln, dass „Love At First Sight“ nicht nur ihr, sondern überhaupt einer der besten Dancefloor-Banger aller Zeiten ist.
Kylie Minogue bringt neues Album raus: Hupfdohlen-Beats für die Elbvororte
Auf „Tension“ gibt es kein Stück dieser Güteklasse, aber doch sehr ordentlichen immergültigen, immerkribbelnden Discobalz à la „Things We Do For Love“. Verzweifelt ist das alles gar nicht, warum auch; theoretisch ist die Liebe halt ein Evergreen, man muss mit 50 nicht zwangsläufig auf Chopin umsteigen oder so. Man kann auch zu Versen wie „Every night/A million hearts are breakin‘/But at least I know tonight/I know I‘m not the only one/Every time (Every time)/That you come close, I can‘t shake it/Oh, the feelings that I have/ Oh, were never done“ abgehen.
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Nur böse Menschen nennen das Erbauungslyrik auf Hupfdohlen-Beats für Post-Scheidungs-Elbvororte-Mittfünfzigerinnen. „All Night Touch Me Like There“, der Sexbefehl des Titelsongs „Tension“, ist als frivole Handlungsanleitung auch in einen Vollgas-Nachtleben-Auftrag übersetzbar. Doch, diese lässig aus dem Glitzerfummel geschüttelten Lieder berühren uns tatsächlich – am Einschaltknopf für hedonistische Lebensführung. So raffiniert wie die tolle Roisin Murphy, die sich ihr neues Werk clevererweise von Meister Koze hat produzieren lassen, ist Minogue auf „Tension“ nicht. Aber zum Dance-Triumvirat 2023 gehört sie wahrscheinlich doch: Murphy, Minogue, Jessie Ware also, die Damen der Nacht.
The National: Nach fünf Monaten mit „Laugh Track“ schon wieder ein neues Album
Bei The National ist es immer dunkel, das US-amerikanische Quintett macht Discomusik für Melancholiker, die gerne zergrübelt daheim rumhängen, was hier glitzert, sind die Tränen in den Gesichtsfurchen, die das Leben geschlagen hat. Hier tanzt der einsame Großstadtcowboy einen langsamen Walzer mit sich selbst, das Rotweinglas in der Hand, vielleicht schwappt ja was auf den Parkettboden. Beim sogenannten „Überraschungsalbum“ – das ist ein Album, das ohne jegliche Vorankündigung quasi über Nacht erscheint – „Laugh Track“ (erscheint physisch erst im November) könnte das passieren.
Die zuletzt oft gebremste, (fast schon) ehemalige Indierockband The National lässt sich nämlich selbst von der Leine – zumindest auf ein paar Tracks dieses Nachfolgers des erst vor fünf Monaten erschienenen Albums „First Two Pages of Frankenstein“. „Space Invader“ ist dabei ein reiner Katharsis-Song, ein sich gegen Ende hin ekstatisch entladendes Midtempostück, das eine Rasanz entfaltet, die man zu Anfang nie erwartet hätte. Instant-Hit, von null auf, sagen wir, eins in der Hitparade der allerbesten National-Songs.
Auch „Alphabet City“, das Bon Iver featurende „Weird Goodbyes“ (wurde bereits im vergangenen Jahr als „Single“ veröffentlicht) und insbesondere das impulsive, nervös fräsende „Smoke Detector“ sind exzellente Songs. Phoebe Bridgers ist wieder dabei bei einem Stück. Ja, die typische The-National-Piano-Ballade hat man jetzt vielleicht einmal zu oft gehört. Aber Matt Berningers immerwährende Selbstzerquälung ist ein Standard, auf den man nicht verzichten will. Der Herbstblues ist bald da, und wenn Schluss sein muss mit dem Geweine, ja dann: steht Kylies „Tension“ bereit.