Hamburg. Zum Festival-Auftakt spielt der Kiez schon verrückt – mit Geheimkonzert-Gerüchten, kleinen Pannen und ersten Höhepunkten.

Tino Lange

„Da hilft nichts auf der Welt, wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt“: Dieser Klassiker von Die Sterne ist nicht sehr viel älter als das Reeperbahn Festival, und hat ebenso gut die Zeit überdauert. Halligalli, Forza, Hamburger Berg, der Kiez hat einen oft genug eingesaugt und ausgespuckt, man ist da vorsichtiger geworden als Begleiter des Reeperbahn Festivals seit 2006.

Aber der Mittwoch, der erste Festivaltag, der ist immer entspannt gewesen. Das Programm und die Zahl der teilnehmenden Clubs sowie das Publikum sind im Vergleich zu den folgenden drei Tagen und Nächten bis Sonnabend noch übersichtlich. Genauso wie das Treiben auf St. Pauli. Schön reinsacken, eingrooven, die ersten Töne wirken lassen. Das ist zumindest der naive Plan dieses Jahr.

Die Stimme so abgeranzt wie der Elbschlosskeller

Das Festival ist noch nicht offiziell eröffnet, da greift auf der Fritz-Kola Bühne im „Festival Village“ auf dem Heiligengeistfeld bereits der Kanadier Cam Kahin zu Mikro und Gitarre. Seine Stimme ist so abgeranzt wie der Elbschlosskeller, seine Rockmelodien aber so emotional wie Tresenkletten nach dem achten Bier. Hat was von Thin Lizzys Frontmann Phil Lynott, der Junge. Der passt gut hierher.

Das Programm im Festival Village mit zahlreichen Konzerten, Ausstellungen und Talks ist übrigens auch ohne Festivalticket kostenlos zu erleben, so auch die Konzerte am NJOY Reeperbus und auf der Spielbude XL auf dem Spielbudenplatz. Dort kursieren schon die ersten Gerüchte über ein Überraschungskonzert einer sehr beliebten Berliner Band (nicht Die Ärzte, Beatsteaks oder Peter Fox) am Donnerstag, Freikarten werden angeblich am Donnerstag ab 16 Uhr auf dem Hans-Albers-Platz verteilt. Mal sehen, was dran ist.

Kontrastprogramm: Bei der Opening Gala im Operettenhaus ging es mit Iniko aus New York und weiteren Acts eher plüschig zu.
Kontrastprogramm: Bei der Opening Gala im Operettenhaus ging es mit Iniko aus New York und weiteren Acts eher plüschig zu. © dpa | Christian Charisius

Reeperbahn Festival: Kontrastprogramm mit Claudia Roth

Der totale Kontrast zu Cam Kahin und seiner Band ist die Opening Gala 500 Meter entfernt im plüschigen Operettenhaus. Dort lauschen 1200 Gäste aus Politik, Gesellschaft und Musikgeschäft den Grußworten von Kultur-Staatsministerin Claudia Roth (Ex-Managerin von Ton Steine Scherben und Ehrenmitglied des FC St. Pauli, also festivaltauglich) und Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher. Der freut sich, dass Hamburg „wieder vier Tage die Musikhauptstadt Europas“ ist. Roth wünscht, dass das Festival „die Stimmen und den Sound unserer Gesellschaft präsentiert, unserer Demokratie: jung, divers, queer, avantgarde und kreativ.“

Dass das Festival ein wichtiger Image- und Wirtschaftsfaktor nicht nur für Hamburg ist, hat sich längst etabliert. Nicht von ungefähr trägt die öffentliche Hand über die Hälfte des Festivalbudgets, wie Claudia Roth betont. Generell spiegeln sich politische und gesellschaftliche Themen wie letztes Jahr der Krieg in der Ukraine oder dieses Jahr Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Künstliche Intelligenz und Diversität auch im viertägigen Konzertmarathon wider.

Panne bei der Opening Gala im Operettenhaus

Der Startschuss bei der Gala misslingt, abgefeuerte Luftschlangen stören die Technik und unterbrechen die Opening Show. Hoppla. Aber das ist live. Startworte, Startschnäpse gibt es auch vor den ersten Akkorden der musikalisch sehr prominenten Festival-Auftaktsängerin Arlo Parks aus London. Denn natürlich sollen die 50.000 erwarteten Besucherinnen und Besucher nicht unbedingt Arlo Parks, The Pretenders und The Hives, sondern 320 Newcomer und Geheimtipps aus über 40 Ländern entdecken.

Mariybu begeisterte auf der Fritz Cola Bühne.
Mariybu begeisterte auf der Fritz Cola Bühne. © Funke Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Zum Beispiel Dylan Cartlidge aus England im Nochtspeicher. Der Sänger und Bassist hat zwar die Erscheinung eines Football-Verteidigers aus den 70ern, zelebriert aber mit seinem Begleittrio eine mitreißende R‘n‘B-Soul-Funk-Rock-Party, die den Club schnell wackeln lässt. Super Typ!

Dylan Cartlidge aus England wirkte im Nochtspeicher wie ein Football-Verteidiger aus den 70ern.
Dylan Cartlidge aus England wirkte im Nochtspeicher wie ein Football-Verteidiger aus den 70ern. © Funke Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Exil-Hamburgerin Mariybu erfüllt Claudia Roths Wunsch

Aber man muss nicht nach England schauen, um erfrischende Talente zu entdecken: Nach einem Überraschungsauftritt der Berlinerin Paula Hartmann im Festival Village stellt sich nach einigen technischen Problemen Mariybu auf der Fritz-Kola Bühne vor, von Hamburg nach Berlin gezogen: Mit mächtig pumpenden Hyper-Pop erfüllt sie in Songs wie „Sexting auf Insta“ Claudia Roths Wünsche: jung, divers, queer, avantgarde und kreativ. Sie gehört aber definitiv in einen erhitzen Club (Donnerstag spielt sie im Häkken). Trotzdem ein unterhaltsamer Festival-Zufallstreffer, die Schlange vor dem Mojo Club für das eigentliche Ziel Blumengarten war 100 Meter zu lang. Schon am Mittwoch kann man auf einen Besucherrekord (50.000 kamen 2019) wetten.

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Auch im Bahnhof Pauli knarzen schon die Nähte mit einer geballten Masse Mensch. Auf der Bühne steht Uche Yara, die aus Österreich stammt, aber – es nervt langsam – in Berlin lebt. Ihre Les-Paul-Gitarre mit Kreiselmuster erinnert an Ozzy Osbournes Saitenbieger Zakk Wylde, aber bei ihr ist nicht Metal angesagt, sondern Indie, Rock, Dance, Soul und gern alles zusammen wie bei den Landsmännern von Bilderbuch.

Brockhoff rechtfertigt den Status „Wunderkind“

Wohin als nächstes? Cloudy June im Moondoo? Sie kommt aus Berlin, das reicht jetzt. Also muss es zum Abschluss des Abends mal Hamburg sein: Im Bahnhof Pauli zeigt Brockhoff, die im August bereits beim Dockville Festival auftrat, warum sie auf dem Kiez in der Reihe „Wunderkinder – German Music Talent“ spielt: rockig und räudig wie die frühen 90er, nur leicht angeschliffene Kanten, ein gutes Gefühl für tragende Melodien. Sehr, sehr gut.

Was soll da noch kommen? Eine Menge. Noch drei Tage, noch viel mehr Bands, noch mehr Festivalfans, die in den üblichen Kieztrubel tauchen. Es wird voll, das zeigt schon der Mittwoch. Es wird anstrengend, es wird auch ein wenig auf den Geist fallen. Aber da hilft nichts auf der Welt. Hier auf St. Pauli.