Hamburg. Bis zu 20 Stunden Arbeit neben dem Studium: Viele Studierende fühlen sich doppelt belastet und haben wenig Geld. Worauf sie verzichten.
Wenn in der Mensa Studierendenhaus um 14.15 Uhr die „Happy Hour“ beginnt, bilden sich lange Schlangen vor der Selbstbedienungstheke mit Nudeln. Unter den jungen Frauen und Männern, die hier in der letzten Viertelstunde vor dem Ende der Essensausgabe ihre Teller zum halben Preis vollmachen, ist immer häufiger auch eine Studentin der Sozialökonomie an der Universität Hamburg, nennen wir sie Annika. Zwei Euro für eine große Portion statt bis zu fünf Euro – „ich würde zwar gerne öfter ein Gericht nehmen, auf das ich Appetit habe, aber das verkneife ich mir“, sagt die 24-Jährige.
Ihre Eltern geben 250 Euro Kindergeld an sie weiter, unterstützten sie zusätzlich monatlich mit 150 Euro, so erzählt es Annika, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich nennen will. Um mehr Geld in der Tasche zu haben, arbeitet die Studentin zehn Stunden pro Woche in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderungen; etwa 600 Euro netto erhalte sie dafür. Von den insgesamt 1000 Euro geht eine Warmmiete von 308 Euro ab für ihr 10-Quadratmeter-Zimmer im Wohnheim. Vollzeitstudium und Nebenjob lassen wenig Raum für Freizeit, eine Teilnahme am kulturellen Leben etwa im Kino oder in Clubs leiste sie sich selten, sagt Annika, aber finanziell komme sie hin – noch.
Studium Hamburg: Tagsüber studieren, abends arbeiten
In Kürze wird die Studentin 25, dann endet der Kindergeldbezug. Ihre Eltern wollten es bei 150 Euro Zuschuss belassen. Sie hätten sich gegen einen Antrag für die Ausbildungsförderung BAföG ausgesprochen, weil die umfangreiche Offenlegung ihrer Finanzen ihrer Ansicht nach sehr aufwendig gewesen wäre und absehbar gewesen sei, dass ihre Tochter – wenn überhaupt – nur einen geringen Teil des maximalen Zuschusses von 934 Euro hätte erhalten können.
Fällt das Kindergeld weg, bleiben Annika abzüglich der Miete 442 Euro, wobei sie mehr als die Hälfte davon für Essen einkalkuliert. Als „herausfordernd“ empfinde sie ihr Leben als Studentin in Hamburg, sagt die junge Frau. „Manchmal fühle ich mich überfordert.“
Statistikamt: 37,9 Prozent der Studierenden waren 2021 armutsgefährdet
Für eine Verbesserung der sozialen Lage von Studierenden wie Annika demonstrierten vor Kurzem in der Hamburger Innenstadt etwa 300 Mitglieder der staatlichen Hochschulen. „Studierende sind durch Studium und Prüfungsstress einerseits sowie finanzielle Sorgen und eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe andererseits doppelt belastet“, sagte Mitorganisatorin Mena Winkler.
Aktuelle Daten wiesen auf eine hohe Armutsquote unter Studierenden hin, sagte Winkler. Damit bezog sie sich unter anderem auf die jüngste Sozialerhebung des deutschen Studierendenwerks. Demnach müssen 37 Prozent der Studierenden hierzulande mit weniger als 800 Euro im Monat auskommen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren 37,9 Prozent der Studierenden im Jahr 2021 armutsgefährdet und 38,5 Prozent nicht in der Lage, unerwartete größere Ausgaben zu bestreiten. Seitdem hat eine Inflation von zeitweise fast zehn Prozent die Lage der jungen Frauen und Männer zusätzlich erschwert.
Der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften der Universität Hamburg verweist zudem auf eine eigene Untersuchung. Bei einer Befragung an der Uni Anfang dieses Jahres hätten von 2191 Studierenden, die allein oder mit anderen Studierenden unter einem Dach wohnen, 72 Prozent angegeben, unterhalb der „Armutsgrenze“ zu leben.
Die Armutsgefährdungsschwelle für Alleinstehende liegt bei 1250 Euro
Gemeint ist die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle. Diese wird in Deutschland im Vergleich zum Wohlstand der ganzen Gesellschaft festgelegt. Arm ist demnach, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Der Schwellenwert für Alleinlebende lag nach Angaben des Statistischen Bundesamts im vergangenen Jahr bei 1250 Euro im Monat.
Demo-Mitorganisatorin Leonie Corinth, Studierende der Gesundheitswissenschaften an der HAW Hamburg, sagt: Dass viele Studierende unter prekären Bedingungen leben, werde tabuisiert oder als normal dargestellt, nach dem Schema: Studierende haben nun einmal wenig Geld. „Dieser Zustand ist nicht weiter hinnehmbar.“
Sportverein, Wäsche waschen – wie Studierende sparen
Im Jahr 2021 erhielten nach Angaben des Statistischen Bundesamts nur rund elf Prozent der Studierenden hierzulande BAföG – bei der Einführung in den 1970er-Jahren hatten mehr als 40 Prozent die Förderung bekommen. Vor diesem Hintergrund forderten die demonstrierenden Hamburger Studierenden zuletzt ein BAföG für alle, unabhängig von Alter und Einkommen der Eltern, in Höhe der realen Lebenshaltungskosten, angepasst an die Inflation. Zudem sollte der Hamburger Senat das Studierendenwerk für dessen Leistungen „bedarfsgerecht“ finanzieren; es seien mehr Studierendenwohnheime, niedrigere Mieten und Mensapreise in der Hansestadt nötig, um die jungen Leute finanziell zu entlasten.
Annika erzählt, ihre Miete im Wohnheim sei zuletzt um neun Euro erhöht worden. Einmal waschen koste nun drei statt zwei Euro. Zusätzlich den Trockner zu nutzen, wenn der Trockenraum voll ist: insgesamt fünf Euro. „Das klingt nicht bedeutend, aber die Kosten steigen an vielen Stellen, das summiert sich“, sagt die Studentin. Sie wasche ihre Kleidung nur noch alle zwei bis drei Wochen. Ihre Mitgliedschaft im Sportverein für 37 Euro im Monat werde sie kündigen.
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600 Euro für ein WG-Zimmer in Hamburg
Kein Zimmer in einem Hamburger Studierendenwohnheim ergattert hat Jana. Die 30-Jährige, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, muss 600 Euro warm für ihre WG-Unterkunft berappen. Sparen durch einen Umzug? „In Hamburg ein neues Zimmer zu finden ist utopisch“, sagt Jana. Sie hatte eine Ausbildung absolviert, bevor sie ihr Studium an einer großen staatlichen Hochschule in der Hansestadt begann.
Neben dem Studium arbeite sie 20 Stunden pro Woche als Schneiderin, überwiegend abends, verdiene damit 1200 Euro netto, sagt die Studentin. „Mein Leben ist komplett durchgetaktet; ich fühle mich wie in einem Hamsterrad.“ Sie kenne nur Studierende, die arbeiten müssten, um ihr Leben zu finanzieren, wobei viele weniger als 1000 Euro zur Verfügung hätten, sagt Jana.
Keine Zeit für Ausflüge – der Job hat für Hamburgerin Vorrang
BAföG habe sie nicht beantragt, unter anderem, weil sie eine hohe Verschuldung fürchte – der Darlehensteil der Ausbildungsförderung muss bisher bekanntlich zurückgezahlt werden. Neue Klamotten habe sie seit Jahren nicht gekauft, sagt Jana. „Ich bekomme Kleidung von Freunden geschenkt und nehme das, was in unserem Haus aussortiert wird.“ Ausgaben für Kino, Theater und den Besuch von Kunstausstellungen leiste sie sich nur selten; für entspannende Ausflüge in die Natur fehle die Zeit.
Eine Kamera, die Jana für ihr Studium braucht, sei gerade kaputt, erzählt die junge Frau. Bis zu 200 Euro koste die Reparatur. „Dafür spare ich gerade.“ Sie hoffe auf mehr Unterstützung für Studierende, insbesondere durch ein BAföG für alle, das nicht zurückgezahlt werden muss. „Ich habe das Gefühl, das man am Rand steht, sich abkämpft und müht, aber nicht gesehen wird.“
Hamburger Professor: Das Studium ist heute „hochgradig verdichtet“
Wer bei einem mittleren oder darunter liegenden Einkommen mehr als 30 Prozent seines Einkommens für Miete ausgeben müsse, lebe prekär – das gelte natürlich auch für Studierende, sagt Harald Ansen, Professor für soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.
1250 Euro zum Leben für einen Einpersonenhaushalt – das entspreche in etwa nach der relativen Armutsgrenze einem Betrag, der gerade noch einen Lebensstandard ermögliche, der in unserer Gesellschaft als annehmbar gelte, ansonsten nehme die Ausgrenzung in vielen Lebensbereichen zu.
Studium Hamburg: Kürzungspläne der Regierung – spart die Ampel bei Studierenden?
Ein Studium sei heute anders als früher durch die sogenannte Bologna-Reform „hochgradig verdichtet“, sagt Ansen. Die Lebenshaltungskosten seien erheblich gestiegen. Wer sich als Studierender um seinen Unterhalt sorgen und zusätzlich arbeiten müsse, stehe unter einem hohen Druck. „Studierende erzählten mir, sie hätten im Winter weniger geheizt, um Geld zu sparen – dafür wurde dann ihr Zimmer feucht“, sagt Ansen. Auch materiell bedingt litten viele Studierende unter Angst und Depressionen. „Schnell zu studieren, das ist unter solchen Bedingungen kaum möglich.“
Unterdessen zeichnet sich ab, dass das Bundesbildungsministerium 2024 mit weniger Geld auskommen muss als dieses Jahr – dadurch könne die geplante Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung auf der Strecke bleiben, warnte vor Kurzem das Deutsche Studierendenwerk. Dessen Vorstandsvorsitzender Matthias Anbuhl erklärte: Die BAföG-Versprechen der Bundesregierung drohten zu „implodieren“.