Hamburg. Gerade noch gab die Partei ein jämmerliches Bild ab, nun steht die Führung vor der Wiederwahl und hat hohe Ziele. Wie ist das möglich?

Im Versteckspielen macht Hamburgs Grünen niemand etwas vor. Obwohl die Partei seit acht Jahren an der Regierung beteiligt ist und sich ihre Mitgliederzahl an der Elbe in wenigen Jahren verdreifacht hat (diese Woche waren es exakt 4366), braucht es einigen Spürsinn, ihre Zentrale aufzusuchen.

Wo die SPD ihr repräsentatives Kurt-Schumacher-Haus in St. Georg hat und die CDU stolz im Ludwig-Erhard-Haus am noblen Leinpfad residiert, haben die Grünen – nun ja, einen Zettel. „Die Grünen in Hamburg. Landesgeschäftsstelle“ steht auf dem Ausdruck, der mit Tesafilm an der Glastür eines schmucklosen Bürogebäudes im Kontorhausviertel befestigt ist. Wer das richtige Stockwerk findet, was einem nicht leicht gemacht wird, stößt immerhin – auf einen weiteren Zettel. Und eine große Sonnenblume an der Tür. Ziel erreicht.

Hamburgs Grüne trotzen bundesweitem Gegenwind und internen Affären

Positiv betrachtet, könnte man sagen: Die Grünen machen wenig Bohei um sich selbst. Sympathisch. In der SPD, wo sie gern spöttisch die Geschichte vom klugen und einfallsreichen Koalitionspartner erzählen, der leider handwerkliche Defizite habe, würden sie wohl sagen: Nicht mal das bekommen die hin. Ist ja auch erst ein Jahr her, dass die Partei einen Eingang weitergezogen ist ...

Doch für Hochmut gegenüber den Grünen gibt es keinen Grund, schon gar nicht bei den Sozialdemokraten. In den Onlinebefragungen des Instituts Civey rangiert die Partei von Bürgermeister Peter Tschentscher mit 29 Prozent gut zehn Punkte hinter ihrem Wahlergebnis von 2020, während die Grünen ihres mit 24 Prozent gehalten haben. Kurz dahinter kommt mit 20 Prozent schon die CDU (2020: 11,2).

Parteichefin Blumenthal will „selbstverständlich“ wieder stärkste Kraft werden

Und so unscheinbar die Parteizentrale, so selbstbewusst gab dort die Grünen-Landesvorsitzende Maryam Blumenthal am Mittwoch das Ziel aus: „Selbstverständlich“ wolle man 2024 bei den Bezirkswahlen wieder stärkste Kraft werden. Zur Erinnerung: 2019 hatte die Ökopartei die SPD hamburgweit klar distanziert und sich in vier von sieben Bezirken die Mehrheit gesichert – sie dann in zwei davon aber wieder verspielt.

Auch für die Bürgerschaftswahl Anfang 2025 zeigte Blumenthal wenig Zurückhaltung: „Wir haben in Hamburg den Anspruch, weiterhin führend mitzuregieren.“ An entscheidender Stelle mit dafür sorgen, dass es so kommt, will sie selbst: An diesem Sonnabend stellt sich die 37-Jährige, die die Partei seit zwei Jahren führt, erstmals zur Wiederwahl – wenn auch in etwas anderer Rolle: Auf dem Parteitag in Wilhelmsburg kehren die Grünen nach mehr als 20 Jahren zur Doppelspitze zurück, Blumenthals Stellvertreter Leon Alam soll künftig gleichberechtigt an ihrer Seite stehen.

Wiederwahl der Parteispitze scheint sicher – trotz eines desaströsen Frühjahrs

Gegenkandidaturen gibt es bislang nicht, die Wahl des Duos scheint sicher. Zwar erwarten viele Mitglieder kein Traumergebnis von 80 Prozent oder mehr, aber die Geschlossenheit sei groß, heißt es fast unisono aus allen Ecken der Partei. „Mit diesem Team gehen wir schließlich in drei Wahlen“, sagt einer, der auch auf die Europawahl 2024 blickt. Da könne man sich keine internen Streitigkeiten leisten.

Maryam Blumenthal und und ihr Stellvertreter Leon Alam führen die Hamburger Grünen seit zwei Jahren. Künftig sollen sie gleichberechtigte Landesvorsitzende sein.
Maryam Blumenthal und und ihr Stellvertreter Leon Alam führen die Hamburger Grünen seit zwei Jahren. Künftig sollen sie gleichberechtigte Landesvorsitzende sein. © Marcelo Hernandez

Man reibt sich verwundert die Augen. Denn noch vor wenigen Monaten gaben die Grünen ein ganz anderes Bild ab. Da haderten die Friedensbewegten mit der Aufrüstung der Ukraine und dem Sondervermögen für die Bundeswehr, die Atom-Gegner mit der verlängerten Laufzeit für die Kernkraftwerke und die Klimaschützer mit dem Wirbel um Habecks Heizungsgesetz – und manche mit allem. „Ganz schön viele Zumutungen“, räumt ein prominentes Parteimitglied ein.

Affären um Michael Osterburg und Miriam Block schlugen hohe Wellen

Zumal noch einige Hamburgensien hinzukamen, zum Beispiel der Prozess gegen Michael Osterburg, den früheren Fraktionschef der Grünen in Hamburg-Mitte und Ex-Lebensgefährten von Justizsenatorin Anna Gallina. Dass er für private Ausgaben kräftig in die Fraktionskasse gegriffen hatte, beherrschte wochenlang die Schlagzeilen, eine mögliche Befragung der Senatorin im Zeugenstand hing wie ein Damoklesschwert über der Partei.

Die größten Wellen schlug aber der Fall Miriam Block. Zur Erinnerung: Die Bürgerschaftsabgeordnete hatte im März als einziges Mitglied im rot-grünen Lager für einen Antrag der Linkspartei gestimmt, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Morden des rechtsextremistischen NSU einzusetzen.

Das entsprach zwar der Parteilinie, doch die Fraktion hatte sich vorher unter großen Schmerzen und Verrenkungen mit der SPD auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung der NSU-Aktivitäten in Hamburg geeinigt, insbesondere des Mordes 2001 an dem Gemüsehändler Süleyman Tasköprü.

Einer wollte wegen der Degradierung von Miriam Block den Parteivorstand stürzen

Dass Block das unterlaufen hatte und anderen Abgeordneten die aufrechte antifaschistische Haltung abgesprochen haben soll, sorgte für einen großen Knall: Mit Zweidrittelmehrheit enthob die Fraktion sie ihres Amtes als wissenschaftspolitische Sprecherin und zog sie aus zwei Ausschüssen ab.

Miriam Block ist seit 2020 Bürgerschaftsabgeordnete. Ihrer Degradierung folgte ein politisches Beben.
Miriam Block ist seit 2020 Bürgerschaftsabgeordnete. Ihrer Degradierung folgte ein politisches Beben. © Grüne Hamburg

Nun folgte dem Knall ein politisches Beben: Die Grüne Jugend bekundete ihr „tiefsitzendes Entsetzen“, bundesweit kursierte ein von Studierenden und Hochschulmitarbeitern initiierter offener Brief mit dem Aufruf „Miriam Block muss bleiben!“, und in Hamburg rief ein Parteimitglied bei Twitter zum Sturz des Landesvorstands auf – denn der hatte die Degradierung der Abgeordneten in der Fraktion ausdrücklich gebilligt. Die Partei stand vor der Zerreißprobe und gab ein jämmerliches Bild ab.

Urteil im Osterburg-Prozess war eine Befreiung für die Partei

Das war Ende April. Wer damals prognostiziert hätte, zwei Monate später werde die Parteiführung ohne Murren und Gegenkandidaturen wiedergewählt, hätte nur ungläubiges Kopfschütteln geerntet. Wie ist es also möglich, dass es vermutlich doch so kommt?

Nun, der Prozess gegen Osterburg endete im Mai mit einer Verurteilung zu einer Bewährung- und einer Geldstrafe, ohne dass Gallina aussagen musste und ohne dass allzu viel schmutzige grüne Wäsche gewaschen wurde – eine Befreiung für die Partei. Und auch der Fall Block wurde überraschend schnell befriedet.

Miriam Block arbeitet schon wieder inhaltlich mit

Maryam Blumenthal verweist darauf, dass es sich um einen inhaltlichen Konflikt gehandelt habe, der nicht auf der persönlichen Ebene ausgetragen worden sei. Zudem habe man extra einen Mitgliederabend organisiert, auf dem sich alle die Meinung geigen konnten, und führe bis heute viele Gespräche dazu. Dem Vernehmen nach ist Miriam Block keineswegs isoliert in der Fraktion und arbeitet schon wieder inhaltlich mit – weitere Annäherung nicht ausgeschlossen.

Gutes Indiz: Die Grüne Jugend (GJ) hat den Fall vor dem Parteitag nicht erneut thematisiert. Stattdessen fordert sie „nur“, über den von den Bundes-Grünen mitgetragenen Asylkompromiss zu sprechen. „Die grünen Senatsmitglieder dürfen diese gescheiterte Asylpolitik nicht dulden“, sagt der GJ-Vorsitzende Berkay Gür. Die Parteiführung will die Debatte zulassen – das tut weniger weh, als einen internen Konflikt aufzuarbeiten.

„Unerträglich“: Gorden Isler trat wegen der Block-Affäre aus dem Landesvorstand zurück

Dennoch hallt der Fall Miriam Block noch nach. So trat im Mai Gorden Isler als Mitglied des Landesvorstandes zurück. Die Abkanzelung der Abgeordneten finde er „unerträglich“, sagte der Vorsitzende der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye damals der „taz“ und beklagte, dass er nicht eingebunden worden sei.

Solche und ähnliche Stimmen dürften auf dem Parteitag einige zu hören sein, glauben viele Mitglieder. Gleichwohl erwarten sie nicht, dass das die Wiederwahl von Blumenthal und Alam gefährde. „Die beiden werden nicht krass abgestraft“, heißt es selbst im Lager derer, die zuletzt manches kritisch sahen. Ein anderer verweist auf den massiven Gegenwind auf Bundesebene, die guten Umfragewerte der AfD und die bevorstehenden Wahlen: „Das schweißt alles zusammen.“

Neue grüne Wirtschaftspolitik: Akademikerpartei feiert Industrie und Handwerk

Zumal man ja auch inhaltlich in die Offensive gehen will. Zu Beginn des Parteitags wird ein Leitantrag debattiert, mit dem sich die Grünen in der Wirtschaftspolitik neu aufstellen. Inhaltlich bietet der bis auf die Forderung nach einer „Innovationsmilliarde“ für Forschung und Zukunftstechnologien zwar wenig Konkretes.

Aber er enthält bemerkenswerte Formulierungen. So werden die drei großen Metallhütten der Stadt als „ein Glücksfall“ bezeichnet, die nötige Dekarbonisierung sei ja in Wahrheit „eine Handwerksleistung“, und zum umstrittenen Anwohnerparken heißt es doch glatt: „Wenn die Wirtschaft auf konkrete Behinderungen hinweist, …, hören wir zu und passen unsere Politik an.“

Die Akademikerpartei feiert Industrie und Handwerk und will nach der Pfeife der Unternehmen tanzen? Nun, ganz so weit ist es wohl noch nicht. Aber auch die Grünen haben inzwischen begriffen, was Olaf Scholz schon vor mehr als zehn Jahren predigte: Gegen die Wirtschaft kann man in der Handelsmetropole Hamburg keine Wahl gewinnen. Genau das wollen die Grünen aber – auch wenn sie sich manchmal gut verstecken.