Hamburg. Grüne Jugend bekundet „tiefsitzendes Entsetzen“ über Bestrafung der Abgeordneten. Einer will die Partei- und Fraktionsführung stürzen.

Die Debatte in der Grünen-Fraktion dauerte viereinhalb Stunden, doch zur Beruhigung trug sie nicht bei, im Gegenteil. Die ungewöhnliche Degradierung der Grünen-Bürgerschaftsabgeordneten Miriam Block am Montagabend lässt die Emotionen innerhalb der mehr als 4000 Hamburger Parteimitglieder hochkochen.

Die Grüne Jugend bekundete ihr „tiefsitzendes Entsetzen“, und mindestens ein Grüner ruft nun dazu auf, Partei- und Fraktionsführung zu stürzen. „Ich sammle dann mal Stimmen für die Abwahl des gesamten Landesvorstandes und fordere insbesondere Dominik Lorenzen zum Rücktritt vom Fraktionsvorsitz auf“, schrieb das langjährige Parteimitglied Detlef Kröger bei Twitter.

Grüne Hamburg: Miriam Block muss im Streit um NSU-Ausschuss Amt abgeben

Ähnlich soll er sich in einem parteiinternen Chat geäußert haben. Offen blieb zunächst, wie viel Rückhalt diese Forderungen haben – prominente Unterstützer zeigten sich jedenfalls bislang nicht. Im Juni steht der Landesvorstand um die Vorsitzenden Maryam Blumenthal und Leon Alam ohnehin turnusgemäß zur Wahl.

Wie berichtet, war Miriam Block im Streit um die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zu den Morden des rechtsextremistischen NSU ihres Amtes als wissenschaftspolitische Sprecherin enthoben und aus zwei Ausschüssen abgezogen worden.

32-Jährige soll andere Abgeordnete moralisch unter Druck gesetzt haben

Vordergründig ging es dabei darum, dass Block als einzige der 33 Grünen-Abgeordneten und entgegen der Fraktionslinie einem Antrag der Linkspartei auf Einrichtung eines PUA zugestimmt hatte. In Wahrheit, so berichteten es mehrere Teilnehmer der Sitzung übereinstimmend, sei es jedoch gar nicht um ihr Abstimmungsverhalten gegangen, sondern um ihr gesamtes Verhalten in dieser Causa.

Die 32-Jährige habe immer wieder andere Abgeordnete unter Druck gesetzt, sich mit ihr für einen PUA einzusetzen, und sich dabei moralisch über andere erhoben, nach dem Motto: Wer nicht für einen Untersuchungsausschuss ist, ist keine aufrechte Antifaschistin. Das sei bei der Mehrheit der Abgeordneten überhaupt nicht gut angekommen.

22 von 31 anwesenden Grünen-Abgeordneten stimmten für den Abwahlantrag,

Auch habe man Block klar zu verstehen gegeben, dass ihr angekündigtes Abstimmungsverhalten Konsequenzen haben werde. Das Angebot, einfach den Saal zu verlassen, wie es einige andere grüne PUA-Befürworter getan hatten, oder sich „nur“ zu enthalten, habe sie jedoch nicht annehmen wollen. „Sie wollte unbedingt dieses Zeichen setzen“, hat ein Fraktionsmitglied beobachtet.

Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen, hier auf der Dachterrasse des Abendblatts, bilden die Doppelspitze der Grünen-Fraktion in der Bürgerschaft.
Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen, hier auf der Dachterrasse des Abendblatts, bilden die Doppelspitze der Grünen-Fraktion in der Bürgerschaft. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Die Quittung bekam die 32-Jährige nach stundenlanger Diskussion gegen 21.30 Uhr am Montagabend: 22 von 31 anwesenden Grünen-Abgeordneten stimmten für den Abwahlantrag, der ungewöhnlicherweise auch ausdrücklich vom Landesvorstand und den grünen Senatsmitgliedern unterstützt wurde – unter anderem soll auch Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank in diesem Sinne das Wort ergriffen haben. Nur sieben waren dagegen und zwei enthielten sich. Ihr Abberufung aus dem Wissenschafts- und aus dem Innenausschuss fiel noch etwas deutlicher aus.

Miriam Block äußert sich nicht – aber Grüne Jugend ergreift für sie Partei

„Dies ist die Konsequenz aus dem Verhalten der Abgeordneten in den letzten Wochen“, sagte Dominik Lorenzen, der zusammen mit Jennifer Jasberg die Grünen-Fraktion führt. „Die Abgeordnete hat wiederholt gegen gemeinsame Absprachen und geteilte Regeln der Kommunikation verstoßen“, so Lorenzen. „Der nun erfolgte Schritt ist aus Sicht der Fraktion daher notwendig, allen Beteiligten aber auch nicht leicht gefallen.“

Während Miriam Block sich am Dienstag nicht äußern wollte, ergriff die Grüne Jugend massiv Partei für die junge Abgeordnete. „Die jeder Verhältnismäßigkeit entbehrende Abwahl von Miriam Block als Fachsprecherin im Wissenschaftsressort und der Verlust ihrer Ausschusssitze hat tiefsitzendes Entsetzen ausgelöst“, sagte Berkay Gür, Landessprecher des einflussreichen Parteinachwuchses, dem Abendblatt.

„Miriam hat in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Grünen gehandelt“

„Ihr entschlossener und unersetzbarer Einsatz für die Aufklärung rechtsterroristischer Gewalttaten findet zu Recht gesellschaftliche Rückendeckung“, so Gür. „Umso mehr hätte ihre Gewissensentscheidung für den Untersuchungsausschuss fraktionelles Verständnis haben müssen.“

Nergis Zarifi, ebenfalls Landessprecherin der Grünen Jugend, ergänzte: „Miriam hat in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Grünen Hamburg und ihrem Gewissen gehandelt, als sie sich für die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses stark gemacht hat.“ Zudem habe sie als Sprecherin für Wissenschaft und Hochschule der Hamburger Grünen „herausragende Arbeit“ geleistet.

Bundesweiter Aufruf „Miriam Block muss bleiben!“ sorgte für Aufsehen

Vor der Fraktionssitzung kursierte sogar bundesweit ein offener Brief mit dem Aufruf „Miriam Block muss bleiben!“. Studierende und wissenschaftliches Personal von Hochschulen sprachen sich darin „entschieden“ gegen die Abberufung der 32-Jährigen aus – vergeblich.

Dass eine Abgeordnete nun geradezu als Märtyrerin und letzte grüne Kämpferin gegen den Rechtsextremismus gefeiert werde, habe für viel Unmut in der Fraktion gesorgt, hieß es. Denn grundsätzlich seien alle Grünen Antifaschisten und an einer Aufklärung der NSU-Morde interessiert.

NSU mordete auch in Hamburg – dennoch gibt es keinen Untersuchungsausschuss

Die rechtsextremistische Terrorgruppe hatte zwischen 2000 und 2007 bundesweit neun Menschen mit Migrationshintergrund sowie eine Polizistin ermordet, darunter 2001 den Hamburger Gemüsehändler Süleyman Tasköprü. Der Komplex wurde auch in Hamburg in diversen politischen Gremien lang und breit verhandelt, dennoch ist die Hansestadt bis heute das einzige von der Mordserie betroffene Bundesland, das noch keinen Untersuchungsausschuss dazu eingerichtet hat.

Die Grünen hatten daher schon 2021 auf Parteiebene beschlossen, einen Vorstoß für einen PUA zu unternehmen – wohl wissend, dass die SPD als Koalitionspartner diesen ablehnt, weil sie diese politische Form der Aufklärung, zumal mehr als 20 Jahre nach der Tat, für ungeeignet hält.

Grüne verhandelten schon lange mit SPD über möglichen Weg der Aufklärung

Die Landesvorsitzende Blumenthal, die zugleich in der Bürgerschaft sitzt, hatte daher seit Monaten Gespräche mit der SPD geführt, wie man sich bei dem Thema annähern könnte – mitten hinein platzte Ende März der Antrag der Linkspartei auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. In der Sitzung am Montag soll Block auch mit der Frage konfrontiert worden sein, woher die Linke denn von diesen Gesprächen wusste und wie nah sie selbst dieser Partei stehe?

Jedenfalls eskalierte der Konflikt nun. Vom Abendblatt gefragt, was sie vom Vorstoß der Linken halte, sagte Co-Fraktionschefin Jennifer Jasberg, es sei „erschütternd“, wie vehement außer der CDU auch die SPD einen PUA ablehne. Das wiederum brachte Rot-Grün an den Rand des Koalitionsbruchs. Seine Fraktion weise die „unhaltbaren Vorwürfe von Jennifer Jasberg auf das Schärfste zurück“, sagte SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf.

Mord an Süleyman Tasköprü soll nun wissenschaftlich aufgearbeitet werden

Nur mit größter Mühe rauften sich die Koalitionspartner auf einer Krisensitzung wieder zusammen und beschlossen als Kompromiss, den Mord an Süleyman Tasköprü noch einmal wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Auch Jasberg, die intern selbst an einem Vorstoß für einen PUA gearbeitet hatte, gab nun nach und trug diesen Kompromiss mit.

Nur eine wollte partout nicht klein begeben und dafür notfalls auch die Koalition mit der SPD platzen lassen: Miriam Block. Ob sie dennoch eine Zukunft bei den Grünen hat, ist offen. Laut einem internen Newsletter will die Parteispitze kurzfristig einen Mitgliederabend anbieten – damit alle mal Dampf ablassen können. Genug Druck dafür ist auf dem grünen Kessel.