Hamburg. Osterburg-Prozess, Streit in der Fraktion und Habeck-Krise belasten die Grünen. Wann schaltet die Partei in den Angriffsmodus?

Der von vielen Grünen befürchtete GAU ist ausgeblieben. Michael Osterburg, früher einer der bekannteren Grünen-Politiker in der Stadt, ist am Mittwoch wegen Untreue, Betrug und Urkundenfälschung zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Der ehemalige Fraktionschef der Grünen in der Bezirksversammlung Mitte hatte gestanden, sich zwischen 2015 und 2019 mehr als 26.000 Euro für private Ausgaben aus der Fraktionskasse erstattet lassen zu haben.

Osterburg ersparte mit seinem Geständnis seiner früheren Lebensgefährtin und heutigen Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) einen unangenehmen Auftritt als Zeugin vor Gericht, wo zum Beispiel Fragen nach ihrer Kenntnis der falschen Spesenabrechnungen gemeinsamer Restaurantbesuche hätten gestellt werden müssen.

Da Osterburg den Grünen außerdem den Gefallen tat, die Partei zu verlassen, kann der Fall politisch zu den Akten gelegt werden, sieht man einmal von dem moralischen Schaden ab, den er verursacht hat. Manchem Grünen-Mitglied ist trotzdem ein Stein vom Herzen gefallen, aber letztlich bedeutet das Ende des Osterburg-Prozesses nur: eine Sorge weniger.

Ein Jahr vor den wichtigen Bezirks- und Europawahlen und nur noch gut eineinhalb Jahre vor der ungleich wichtigeren Bürgerschaftswahl fallen Zwischenbilanz und Perspektiven grüner Politiker ernüchternd aus. Kein Rückenwind aus Berlin, im Gegenteil: Die Compliance-Affäre um den Ex-Staatssekretär Patrick Graichen und das lange Zögern von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bis zu dessen Rauswurf hat die moralische Integrität der Grünen insgesamt beschädigt. Der Dauerstreit in der Ampel etwa um Habecks Heizungsgesetz tut ein Übriges.

Die größte Grünen-Bürgerschaftsfraktion, die es je gab, ist tief zerstritten

Doch wichtiger noch als der Berliner Einfluss sind die hausgemachten Probleme der eigentlich selbstbewussten Hamburger Grünen. Die Bürgerschaftsfraktion – mit 33 Köpfen die größte, die es jemals gab – ist tief zerstritten.

Die hoch emotionale Auseinandersetzung um die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat die Risse, die die Fraktion durchziehen, deutlich aufgezeigt. Mit Miriam Block stimmte eine Grünen-Abgeordnete gegen die Koalitionslinie für den PUA, mehrere Grüne enthielten sich oder stimmten nicht mit ab. Fast wäre das rot-grüne Bündnis daran zerbrochen.

Die Fraktionsspitze setzte daraufhin durch, dass Block ihre Sprecherposten verliert. Nicht nur das bundesweite Echo auf die Disziplinierung der Abweichlerin war verheerend. Auch in der hiesigen grünen Stammwählerschaft gab und gibt es heftiges Stirnrunzeln für den machtpolitisch erforderlichen Strafakt. In der Fraktion stehen sich die Lager der „Alt“-Abgeordneten, der neuen Abgeordneten, denen alles nicht schnell genug geht, und eine Gruppe Unabhängiger bisweilen feindselig gegenüber.

Das Absacken der Bremer Grünen ist ein Warnsignal auch für die Hamburger

Der Trend ist nicht auf grüner Seite: Es läuft nicht gut für die Partei bei Wahlen landauf landab. Das deutliche Absacken der Bremer Grünen bei der Bürgerschaftswahl am vergangenen Wochenende war ein Warnsignal auch für die Hamburger Parteifreunde.

Eine von autofahrenden Bürgerinnen und Bürgern als provokativ empfundene grüne Verkehrspolitik – Stichwort: Abschaffung der „Brötchentaste“ – wird an der Wahlurne bestraft. Den Berliner Grünen schadete vermutlich auch die Sperrung der Friedrichstraße für den Autoverkehr kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen.

Nun ist die Mobilitätswende-Politik von Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) deutlich geschmeidiger als die seiner Parteifreunde in den beiden anderen Stadtstaaten. Tjarks hat es bislang vermieden, die Autofahrer allzu stark gegen sich aufzubringen, sieht man vielleicht einmal vom Thema Anwohnerparken ab.

Und der Verkehrssenator kann sich auf die Unterstützung von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) stützen, auch weil der Grüne die Autofahrerthemen Fahrbahnsanierung und Brückeninstandsetzung nicht außer Acht lässt.

Die Messlatte der Grünen liegt unverändert hoch: Sie wollen stärkste Kraft werden

Eineinhalb Jahre vor der Bürgerschaftswahl darf aber schon mal die Frage gestellt werden, mit welchen Erfolgen die Grünen in den Wahlkampf ziehen wollen, zumal es auch beim zweiten großen Thema der Partei – Klimapolitik und Energiewende – angesichts der Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine langsamer vorangeht als erhofft.

Und die parteieigene Messlatte liegt ja hoch: Die Grünen wollten mit Spitzenkandidatin Katharina Fegebank 2020 die erste Frau und die erste Grüne als Erste Bürgermeisterin ins Amt bringen. Das misslang bekanntlich, aber der Anspruch, stärkste Kraft im Stadtstaat zu werden, gilt unverändert.

Wenn Fegebank will, das erzählt einem jeder und jede bei den Grünen, dann wird sie auch 2025 wieder die Landesliste der Grünen anführen und damit Bürgermeisterkandidatin der Grünen werden. Die Wissenschaftspolitik der Fachsenatorin Fegebank gilt als erfolgreich, nicht zuletzt, weil die Universität unter ihrer Ägide Exzellenzstatus erhielt.

Wahlen lassen sich damit jedoch kaum gewinnen. Aber Fegebank ist als Zweite Bürgermeisterin nicht die Stimme der Grünen in der Koalition, die grüne Interessen gegenüber der SPD auch mal öffentlich und im Streit durchsetzt.

Der Anspruch, „Volkspartei“ zu werden, wurde in den Bezirken nicht umgesetzt

Für die grüne Profilbildung auf Kosten der SPD agiert auf Senatsseite nur hin und wieder Umweltsenator Jens Kerstan, der sich etwa beim Thema Verklappung von Elbschlick mit Tschentscher anlegte. Sicher: Der Konsens in einer Koalition ist wichtig. Wählerinnen und Wähler schätzen den Streit unter Regierenden nicht, siehe Ampel. Aber wer dem Koalitionspartner das Spitzenamt streitig machen will, muss irgendwann in den Angriffsmodus schalten.

Es scheint so, als ob den Grünen in diesem Sinn ein strategisch-politisches Zentrum fehlt. Die Senatoren sind es insgesamt nicht, die Bürgerschaftsfraktion aus genannten Gründen auch nicht, und der Landesvorstand ebenfalls nicht. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Mit dem Anspruch, die Erste Bürgermeisterin zu stellen, war das Ziel vermacht, in Hamburg „Volkspartei“ zu werden, also auf allen Ebenen und allen Stadtteilen vertreten zu sein. Zwar sind die Grünen in allen Wahlkreisen mit direkt gewählten Bürgerschaftsabgeordneten vertreten, aber nicht bei allen ist die Basisanbindung gleich intensiv.

Im rot-grünen Rathausbündnis sind Verschleißerscheinungen sichtbar

Und: Die Bezirksversammlungswahl 2019 war das Aufbruchsignal in puncto Volkspartei: Die Grünen wurden mit 31,3 Prozent stärkste Kraft vor der SPD mit 24 Prozent. In vier der sieben Bezirke lagen die Grünen vorn, aber in Eimsbüttel und Mitte verspielten sie die Macht.

Nur in Nord und Altona wurden mit Michael Werner-Boelz und Stefanie von Berg zwei Grüne Bezirksamtsleiter. In Wandsbek verließen drei grüne Abgeordnete die Fraktion und gefährdeten zwischenzeitlich die rot-grüne Mehrheit. Das spricht insgesamt nicht für professionelles Agieren und eine gute Verankerung der Partei in den Bezirken. In einem Jahr müssen die Grünen ihre Spitzenposition verteidigen.

Entscheidender ist die Bürgerschaftswahl Anfang 2025, wenn es um die Macht im Rathaus geht. Die Grünen würden kaum zögern, ein Bündnis mit der CDU einzugehen, wenn es rechnerisch möglich wäre und Fegebank dadurch zur Ersten Bürgermeisterin gewählt würde.

Umgekehrt: Sollten die Grünen ihr Spitzenergebnis von 2020 mit 24,2 Prozent verfehlen und die CDU nach dem 11,2-Prozent-Debakel deutlich zulegen, könnte dies ein Grund für die SPD sein, den Koalitionspartner zu wechseln. 2025 wird das rot-grüne Bündnis zehn Jahre bestehen. Gewisse Verschleißerscheinungen sind sichtbar.

Rathaus Hamburg: Wer will die Grünen schon als Oppositionspartei haben?

Noch ist es bei weitem nicht so weit. Die SPD tickt insgesamt zwar rot-grün, ist aber strukturkonservativer als manch anderer Landesverband der Partei. Dem Wertkonservativen Tschentscher wiederum dürfte man zutrauen, auch mit der CDU klarzukommen. Das würde allerdings noch einen erheblichen Gewöhnungsprozess zwischen dem Bürgermeister und dem charakterlich sehr unterschiedlichen CDU-Spitzenkandidaten Dennis Thering voraussetzen. Und ganz nebenbei: Wer will schon die Grünen als Oppositionspartei haben?