Reinbek. Der Personalmangel beim Amtsgericht zeigt sich besonders bei aufwendigen Nachlassverfahren. Wie das Gericht Nachwuchs gewinnen will.
In Reinbek sind Anfang des Jahres außergewöhnlich viele Menschen gestorben. Laut Standesamt stieg die Zahl der Todesfälle auf 122. Das sind 21 Fälle mehr als im Vorjahr. Nicht nur Bestatter bekommen das zur spüren – auch im Amtsgericht Reinbek ist der Andrang entsprechend groß. Hierhin wenden sich die Hinterbliebenen für die Aushändigung eines Erbscheins oder wenn sie das Erbe ausschlagen wollen. Statt einem Monat müssen die Erben aktuell doppelt so lange auf die Erstellung der wichtigen Dokumente warten.
Einigen Erben ist das zu lang. Sie reagieren ungehalten und legen beim Amtsgerichtsdirektor Dr. Ulrich Fieber Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Aussicht auf Erfolg hat die meist nicht. „Unsere 65 Mitarbeiter – vom Richter bis zum Wachtmeister – sind sehr engagiert und tun alles, Anfragen zeitnah zu bearbeiten“, sagt Fieber, der stolz auf das gute Arbeitsklima an seinem Gericht ist. Grund für die lange Wartezeit ist zum einen der erhöhte Bedarf an Dienstleistungen in den Wintermonaten. Zum anderen ist das Amtsgericht Reinbek mehr als viele andere Gerichte im Land mit besonders aufwendigen Nachlasssachen konfrontiert. So werden in der finanzstarken Region beispielsweise überdurchschnittlich viele Immobilien im Ausland vererbt – und das stellt die fünf Justizmitarbeiter in der Nachlassabteilung vor große Herausforderungen.
Achillesferse der Justiz ist betroffen – Betreuungsabteilung plötzlich unbesetzt
Noch entscheidender aber für die lange Wartezeit ist der Personalmangel in der gesamten Justiz in Schleswig-Holstein. „Insbesondere die Achillesferse ist betroffen“, sagt Fieber. Mit Achillesferse meint der 52-Jährige, der vor acht Jahren die Direktion am Amtsgericht übernommen hat, das Personal auf der mittleren Ebene wie Rechtspfleger und Mitarbeiter in den Serviceeinheiten der Gerichte. Dazu zählen unter anderem Justizfachangestellte. Letztere verwalten die Akten und beantworten Fragen von Bürgern.
Weil deren Stellen immer schwerer zu besetzen sind, dauern Verfahren länger – oder es führt dazu, dass Verdächtige aus der U-Haft entlassen werden müssen, weil Fristen verstrichen sind. Mit elf Haftentlassungen war die Zahl 2021 in Schleswig-Holstein besonders hoch, im vergangenen Jahr gab es eine Haftentlassung. Der Richterverband schlug Alarm und fordert, den Personalbestand in der Justiz aufzustocken und die veraltete Stellenberechnung der Realität samt ihren komplexeren Verfahren anzupassen.
Schnell ist eine Abteilung nicht mehr besetzt
Eine Forderung, die Ulrich Fieber unterstreicht, auch wenn das Problem im Reinbeker Amtsgericht nicht auf der Richterebene liegt und es hier auch keine vorzeitigen Haftentlassungen gibt. Mit zehn Richtern ist das Amtsgericht gut besetzt. Die mittlere Ebene ist mit zwölf Rechtspflegern und 36 Mitarbeitern in der Geschäftsstelle zwar aktuell auch voll besetzt. Das kann sich aber jederzeit schnell ändern. Wie beispielsweise im vergangenen Jahr, als eine Mitarbeiterin ins Beschäftigungsverbot ging, sich eine zweite in den Ruhestand verabschiedete und eine dritte langfristig erkrankt war.
„Da war die Betreuungsabteilung plötzlich unbesetzt“, sagt Lars Kynhoff, Geschäftsleiter des Reinbeker Amtsgerichts und verantwortlich für die 36 Mitarbeiter der Serviceeinheit. Damit psychisch oder geistig erkrankten Menschen aus dem Amtsgerichtsbezirk dennoch ein gesetzlicher Betreuer zur Seite gestellt werden konnte, hat das Gericht die „Löcher mit Bordmitteln gestopft und Hilfe von Mitarbeitern des Amtsgerichts in Schwarzenbek und in Oldenburg erhalten. Andersherum helfen wir genauso aus“, sagt Kynhoff.
Gerichtsalltag bietet viel mehr als verstaubte Akten
Umso wichtiger wird zukünftig die Nachwuchsgewinnung – auch vor Ort. „Rechtspfleger ist für mich ein
Traumberuf“, wirbt Lars Kynhoff für das dreijährige Duale Studium. Um das bekannter zu machen, hat Kynhoff vor drei Jahren am Amtsgericht ein dreiköpfiges Schulteam gegründet, mit dem er regelmäßig in Schulen in der Region unterwegs ist, um für Berufe in der Justiz zu werben. Damit Schüler sehen, dass Gerichtsalltag viel mehr als verstaubte Akten bietet, lädt er Schulklassen dazu ein, bei Gerichtsverhandlungen dabei zu sein.
Hinter jeder Akte verbirgt sich ein Schicksal
„Als Rechtspfleger arbeite ich tatsächlich viel mit Akten“, sagt Kynhoff. Doch hinter jeder Akte verberge sich ein Schicksal – bei Zwangsversteigerungen oft besonders tragische. Um die hat sich der Oststeinbeker vor seinem Wechsel vom Amtsgericht Schwarzenbek zum Amtsgericht Reinbek ausschließlich gekümmert. In Reinbek wurde er mit nur 26 Jahren Geschäftsleiter – so eine ungewöhnlich schnelle Karriere in der Justiz ist nicht die Regel, gibt er zu. Dennoch sind die Chancen für angehende Nachwuchskräfte besser denn je: Im gesamten Land fehlen laut Kieler Justizministeriums aktuell 28 Rechtspfleger.
Die Abbrecherquote unter den angehenden Rechtspflegern ist hoch. Im vergangenen Jahr war sie besonders hoch. Von 30 angehenden Rechtspflegern haben nur neun ihr Studium erfolgreich abgeschlossen. Über die Gründe für die hohe Durchfallquote kann Ministeriumssprecher Olaf Breuer nur Vermutungen anstellen: „Die veränderten Studienbedingungen während der Pandemie spielen sicher eine Rolle.“ Nach Aussage des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts als einstellende Behörde sei zudem verstärkt zu beobachten, dass sich Studierende erst in der Anfangsphase des Studiums mit den tatsächlichen Inhalten auseinandersetzen und sich dann doch noch umorientieren.
Berufswahl zum Rechtspfleger nie bereut
„Das Studium ist alles andere als leicht“, erinnert sich auch Lars Kynhoff. Abgeschreckt hat das in seinem Ausbildungsjahrgang Ende der 1990er-Jahre aber nur wenige. Damals kamen auf zehn Stellen rund 800 Mitbewerber. Das Verhältnis ist nun ein völlig anderes: Auf die 23 Anwärterstellen gab es in 2022 nur 221 Bewerbungen. Im Vorjahr waren es noch 60 mehr. Die Nachwuchsgewinnung wird nicht nur in den Gerichten immer schwieriger und ist im Hamburger Randgebiet besonders schwierig. „Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu besetzen, ist hier noch schwerer als in anderen Bereichen Schleswig-Holsteins“, sagt Breuer.
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Bereut hat Rechtspfleger Lars Kynhoff seine Wahl nie, würde er jedem seiner vier Kinder zum gleichen Beruf raten: „Wir Rechtspfleger sind dem Richter weitgehend gleichgestellt. Ich trage viel Verantwortung und bin nur dem Recht und meinem Gewissen verpflichtet.“ Reich werde er als Beamter zwar nicht, könne aber durchaus seine sechsköpfige Familie ernähren und durch die flexible und freie Arbeitszeit auch mal beim Training eines seiner Kinder dabei sein.
Schüler aus Hamburg oder Schleswig-Holstein, die in den Gerichtsalltag reinschnuppern möchten, melden sich jederzeit gern per Mail bei Lars Kynhoff: schulteam@ag-reinbek.landsh.de