Hamburg. Viele Leistenbrüche sollen bald ambulant operiert werden. Welche riskanten Folgen für die Patienten Hamburger Experten fürchten.

Jeder Fußballer kennt das: Die Leiste zwickt. Wer sportlich oft dorthin läuft, wo es wehtut, hat mitunter anhaltende Schmerzen im Schritt. Das können schlecht gedehnte Sehnen sein, ein Muskelkater – aber eben auch ein Leistenbruch. Fast jeder dritte Mann (Frauen etwas weniger häufig) leidet im Laufe des Lebens an einer solchen „Hernie“, an einer Wölbung, die da nicht hingehört.

Für so etwas gibt es Experten. Die Ärzte können untersuchen, wie man den Leistenschmerz behandeln muss. In einigen Fällen ist eine Operation unumgänglich. Bei Nabelbrüchen, Oberbauch- und Zwerchfellbrüchen kann das recht dringend sein.

In Hamburg hat sich für diese sehr häufigen Eingriffe ein Herniencentrum etabliert, das jedes Jahr mehrere Tausend Operationen schafft. Es hat Qualitätssiegel, Zertifizierung, Videosprechstunden und ist sogar ein Referenzzentrum der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie, also von denen, die besonders filigran operieren. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die Hamburger Hernien-Ärzte sogar neue, anerkannte Operationsverfahren entwickelt haben.

Arzt in Hamburg: Ambulante OP bei Leistenbruch als Risiko?

Und nun soll den Experten dort eine elementare Entscheidung abgenommen werden: ob ein Patient ambulant oder stationär im Krankenhaus operiert werden kann. Die Krankenkassen setzen voll auf ambulant. Denn sie glauben, dass dadurch die Kosten gesenkt werden können. Auch wenn er sachlich argumentiert, ist Chefarzt Prof. Henning Niebuhr doch außer sich: „Die Ambulantisierung generell ist kein Problem, wenn es gut gemacht wird. Doch in der Hernienchirurgie geht das nicht einfach flächendeckend. Es ist absurd, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen entscheidet, ob ein Patient ambulant oder stationär operiert wird. Das muss in der Entscheidung des behandelnden Arztes bleiben.“

Der Verband der gesetzlichen Krankenkassen spricht davon, dass Deutschland einen Rückstand beim ambulanten Operieren habe. Zu viele Eingriffe würden im Krankenhaus gemacht, obwohl sie ambulant erfolgen könnten. Es gehe um eine „unnötige persönliche Belastung für Patientinnen und Patienten, für die knappen Personalkapazitäten im Krankenhaus sowie die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung“. Bis Anfang 2024 soll in einem Katalog klar beschrieben sein, was ambulant geht, was nicht. „Die Hoheit über die medizinische Entscheidung soll uns weggenommen werden“, klagt Niebuhr.

Nachblutungen bei Hernien-OPs: Was Patienten wissen müssen

Rund 200.000 Leistenhernien-OPs gibt es jedes Jahr in Deutschland. In seltenen Fällen gibt es Nachblutungen. Doch wenn sie auftreten, kann das „tückisch“ sein, wie Dr. Wolfgang Reinpold sagte, der viele Jahre in Wilhelmsburg im Krankenhaus Groß-Sand wirkte, jetzt im Helios Mariahilf arbeitet sowie in der Fleetinselklinik und an anderen Standorten operiert. Solche Nachblutungen müssten schnell erkannt werden und könnten dann erneut laparoskopisch (ohne großen Bauchschnitt wie durch ein Schlüsselloch) „sicher und schonend“ versorgt werden.

Kommt jedoch wie in vielen Fällen ein Patient nicht aus Hamburg und fährt beispielsweise nach einem ambulanten Eingriff mit dem ICE nach Hause, kann es dramatisch werden: Bis eine Nachblutung erkannt wird und ein Arzt vor Ort ist, vergehen womöglich Stunden. Selbst mit einem Rettungswagen könnte nicht der richtige Weg eingeschlagen werden. Denn der fährt die nächste Klinik an. Im Zweifel wird dem Patienten dort in einer Not-OP der Bauch großflächig geöffnet – genau das Szenario, das Niebuhr, Reinpold und Co. vermeiden wollen.

IGES-Gutachten: Sicherheit der Patienten gewährleisten

Am Ende wäre der Patient schlechter versorgt, Aufwand und Kosten exorbitant und niemandem geholfen. Leider kann das Herniencentrum von solchen Fällen berichten. Dann geht es darum, sofort per Ultraschall zu untersuchen und bei Bedarf durch denselben Zugang erneut zu operieren – was derselbe Arzt tun sollte.

Reinpold forderte: „Wir müssen verhindern, dass unsere Patienten zu Schaden kommen. Dazu müssen wir die Patienten nach der OP länger beobachten, um im Zweifel sofort wieder eingreifen und eine lebensbedrohliche Situation verhindern zu können. In einem stationären Setting kann man das beherrschen.“

Für die neuen Regeln zum ambulanten Operieren hat es ein Gutachten des renommierten IGES-Institutes gegeben. Dort ist viel von „Qualität“ die Rede und von der Sicherheit der Patienten. Allerdings, so kritisieren der Hamburger Prof. Niebuhr und Kolleginnen und Kollegen in einem Fachaufsatz im Magazin „Die Chirurgie“, würden bei ambulanten Eingriffen einfachste Risikofaktoren nicht angemessen berücksichtigt. Dazu zählen schon das fortgeschrittene Alter eines Patienten oder so alltägliche Einflüsse wie Neigung zu Fettleibigkeit, Diabetes und Blutgerinnungsstörungen.

Hamburg: Krankenkassen kontrollieren Ärzte und Krankenhäuser

Die Hernien-Doktoren leiden ein bisschen an der Crux der Sicherheitsnetze, die sie selbst gespannt haben. Gerade weil sie extrem vorsichtig sind, passiert so wenig nach ihren Operationen. Das ist Prof. Niebuhr bewusst: „Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat ja bereits jetzt das Recht, nach der Operation sofort sagen zu können: Diese Operation hätte aber ambulant gemacht werden können – weil ja nichts Schlimmes passiert ist. Die Krankenhäuser sollen in Zukunft in einem solchen Fall eine Strafzahlung leisten. Als Ärzte werden wir dadurch kriminalisiert.“

Ob das alles in der Reform der chirurgischen Eingriffe so bedacht wurde, ist fraglich. Bei Leistenbrüchen kann sich aus dem Gespräch zwischen Arzt und Patient ergeben, ob ambulant oder stationär operiert wird. Das kann auch ein nur kurzer Klinikaufenthalt sein. Nach x-tausend Operationen zeigt die Erfahrung im Hamburger Herniencentrum: Auffällig viele Patienten, die irgendwie im Gesundheitswesen zu Hause sind, bevorzugen die Nummer sicher – und damit das Krankenhaus.