Hamburg. Hamburgs neue Ver.di-Vorsitzende Sandra Goldschmidt über den aktuellen Tarifstreit, das 49-Euro-Ticket – und ihren Werdegang.

Im Umgang mit dem Fotografen agiert Sandra Goldschmidt schon wie ein alter Hase. Ob sie sich vielleicht etwas weiter hierhin oder dorthin stellen solle, fragt die neue Hamburger Ver.di-Vorsitzende. Eine etwas andere Pose? Kein Problem.

Diese Professionalität rührt aber weniger daher, dass die 47-Jährige seit ihrer Wahl vor sechs Wochen schon so oft fotografiert worden ist. Vielmehr hat es mit ihrem beruflichen Hintergrund zu tun: Goldschmidt ist selbst ausgebildete Fotografin und kann sich bestens in ihr Gegenüber hineinversetzen.

Die neue Ver.di-Chefin fordert 10,5 Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten

„Ich stamme aus einer klassischen Arbeiterfamilie“, erzählt sie beim Gespräch im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. Ihr Vater habe sich zunächst mit Hilfsarbeiten durchgeschlagen, bis er schließlich in der Autoindustrie landete – nicht untypisch für eine Familie aus dem Großraum Stuttgart. Natürlich ist er IG-Metall-Mitglied, die Gewerkschaftspostille liegt daheim auf dem Wohnzimmertisch.

„Bei uns zu Hause war immer klar, dass Gewerkschaften wichtig sind“, erzählt Sandra Goldschmidt. Trotz Abitur macht sie daher erst mal eine Ausbildung zur Werbefotografin. Von dort geht es weiter zur Agentur Pixelpark, und schließlich, nach dem Platzen der Internet-Blase, zur Gewerkschaft: 2002 fängt Goldschmidt bei der kurz zuvor aus fünf Einzelorganisationen gebildeten neuen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di an.

Dreifache Mutter, Chefin von 100 Mitarbeitern und Vertreterin von 87.000 Beschäftigten

Drei Jahre später holt sie deren Vorsitzender Frank Bsirske als seine persönliche Referentin nach Berlin. Nach einer weiteren Zwischenstation in Hannover wird sie 2015 in Hamburg stellvertretende „Landesbezirksleiterin“, wie es im schönsten Gewerkschaftsdeutsch heißt. Als sich der langjährige Vorsitzende Berthold Bose im Februar 2023 aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Wiederwahl stellt, wird Sandra Goldschmidt seine Nachfolgerin.

Neben DGB-Chefin Tanja Chawla ist die dreifache Mutter, die mit ihrer Familie in Stellingen lebt, damit die wichtigste Arbeitnehmervertreterin in der Hansestadt, Chefin von 100 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und oberste Interessenvertreterin von 87.000 Beschäftigten. Immer noch eine beeindruckende Zahl, aber wenn es nach Sandra Goldschmidt geht, darf sie gern noch steigen.

„Ich will in die Stadt hineintragen, was es bringt, Gewerkschafts-Mitglied zu sein“

„Mein klares Ziel ist es, dass wir wieder mehr werden“, sagt sie. Vor 20 Jahren habe Ver.di in Hamburg schließlich noch 120.000 Mitglieder gehabt. Auch bundesweit ging es runter, von rund drei auf zwei Millionen Mitglieder. Paradoxerweise stieg parallel die Unzufriedenheit der Beschäftigten immer weiter. Kürzlich ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup, dass fast jeder fünfte Mitarbeiter innerlich schon gekündigt hat.

Wie will die Ver.di-Chefin den Trend umkehren? „Ich will in die Stadt hineintragen, was es bringt, Gewerkschaftsmitglied zu sein“, sagt Goldschmidt. „Wir sind die klassische Vertretung für die abhängig Beschäftigten, und die braucht es auch, schließlich sind die Arbeitgeber in der Regel auch in Verbänden organisiert.“

Ver.di-Chefin will Unternehmen zurück in die Tarifbindung holen

Ein großes Problem sei die schwindende Tarifbindung: In den vergangenen zwei Jahrzehnten sank der Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten bundesweit und in Hamburg von knapp 70 auf nur noch gut 50 Prozent. „Wer in einem Unternehmen mit Tarifbindung arbeitet, hat definitiv bessere Arbeitsbedingungen – das ist statistisch erwiesen“, wirbt die Gewerkschafterin. „Eines unser großen Ziele muss daher sein, dass der Anteil an tarifgebundenen Unternehmen und Beschäftigten nicht weitersinkt, sondern wieder steigt.“ Das fordere im Übrigen auch eine neue EU-Richtlinie.

Hoffnung macht ihr dabei die aktuelle Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst, die viele Menschen mobilisiert habe. „Wir erleben gerade einen Aufschwung“, sagt Goldschmidt. „Wenn wir mit unserem Ver.di-Fahrrad, bei dem man direkt seinen Mitgliedsantrag ausfüllen kann, zu Aktionen kommen, stehen die Leute Schlange.“

Vier Prozent mehr pro Jahr seien angesichts der Inflation völlig unangemessen

Die Sorge, dass die Bürger die Forderung nach 10,5 Prozent mehr Lohn für Staatsdiener als überzogen empfinden könnten, erwies sich jedenfalls als unbegründet. „Der Unmut in der Bevölkerung über unsere Streiks war überraschend gering“, hat Goldschmidt beobachtet. „Stattdessen haben uns viele Menschen bestärkt und gesagt: ,Ich bin zwar von Euren Aktionen betroffen, aber es ist trotzdem richtig, was ihr tut.’“

Für sie ist die bereits wieder sinkende Inflationsrate auch kein Grund nachzugeben. „Bei durchschnittlich zehn Prozent Inflation, bei Energie und Lebensmitteln sind es sogar rund 20 Prozent, brauchen die Menschen das Geld einfach. Erst recht in den unteren Lohngruppen“, sagt sie mit Blick auf die am Donnerstag begonnene Schlichtungsrunde. „Deshalb fordern wir so vehement einen Mindestbetrag von 500 Euro. Da können uns die Arbeitgeberinnen nicht mit acht Prozent für 24 Monate abspeisen. Das sind vier Prozent pro Jahr und ist völlig unangemessen – zumal das noch nicht einmal ein offizielles Angebot war.“

Ver.di: Vom Finanzsenator fordert sie mehr Zuschüsse für das 49-Euro-Ticket

Gegenwind bekam sie als Gewerkschaftsvorsitzende dennoch. So beschwerte sich ein mächtiger Hafen-Vertreter bei ihr über die Auswirkungen des Streiks. „Für uns ist das ein gutes Zeichen, weil es zeigt, dass wir die Richtigen getroffen haben“, erklärt Goldschmidt. „Wir wollen ja nicht die Bevölkerung ärgern, sondern die Arbeitgeber dazu bringen, dass sie uns ein vernünftiges Angebot vorlegen.“

Auch mit Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) hat sie sich schon angelegt – wegen des 49-Euro-Tickets. Wie berichtet, ruft der Senat die Hamburger Unternehmen dazu auf, den Preis für ihre Beschäftigten auf bis zu 25 Euro herunterzusubventionieren („Profi-Ticket“) – bietet dies seinen mehr als 70.000 Beschäftigten aber vorerst nicht an. Dressel hatte darauf verwiesen, dass die Stadt das Ticket schon jetzt mit 500 Millionen Euro mitfinanziere. Über weitere Zuschüsse werde man im Zuge der Tarifverhandlungen für die Länder-Beschäftigten im Herbst diskutieren. Goldschmidt kritisiert das als „Versuch, die Kosten für den Zuschuss gegen eine Lohnerhöhung zu rechnen. Das ist definitiv der falsche Weg.“ Den Zuschuss müsse es sofort geben.

Goldschmidt ist Mitglied der Grünen – vor allem wegen der Frauenförderung

An dieses politische Parkett muss sich die neue Ver.di-Chefin zwar noch etwas gewöhnen, aber fremd ist ihr die Materie keineswegs, einmal aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten, andererseits weil sie selbst Parteimitglied ist – bei den Grünen. „Ich stand der Partei schon länger nahe“, erzählt sie. Mitglied sei sie aber erst vor der Bürgerschaftswahl 2020 geworden.

„Ausschlaggebend für meinen Eintritt war die Aussicht, dass es in Hamburg erstmals eine Bürgermeisterin geben könnte. Das wollte ich unterstützen“, sagt Goldschmidt, betont aber auch, dass Ver.di eine Einheitsgewerkschaft sei, in der das Parteibuch keine Rolle spiele: „Natürlich gibt es traditionell eine große Nähe zur SPD, aber bei uns sind Mitglieder fast aller Parteien aktiv.“

In ihrem „Unternehmen“ hat sie das Ziel, das die Grünen letztlich verfehlten, übrigens schon erreicht: Sandra Goldschmidt ist die erste Frau an der Spitze der Ver.di Hamburg.