Hamburg. 35 Prozent der Hamburger haben Migrationshintergrund. Nicht einer sitzt im Senat. Debatten über „strukturellen Rassismus“.

Natürlich, das lässt sich nicht bestreiten: Man ist auch im neuen Senat stets bemüht um das Gute und Gerechte. Die Gleichberechtigung von Frauen soll gefördert, die Gleichstellung von Homosexuellen unterstützt und die Teilhabe von Menschen mit ausländischen Wurzeln gestärkt werden. Diese frohen Sonntagsbotschaften haben SPD und Grüne auch in den neuen Koalitionsvertrag geschrieben. Im Senat aber findet sich die Vielfalt der in Hamburg lebenden Menschen so gut wie gar nicht wieder. Und das sorgte in der Woche nach dem Amtsantritt der neuen Regierung für Diskussionen.

Denn die von SPD und Grünen zusammengestellte Regierungsmannschaft bietet gleich mehrere Angriffsflächen für Menschen, die es mit der „Diversität“ ernst meinen, also mit der Forderung, dass alle größeren Gruppen sich u. a. auch in der Politik mit eigenen Vertretern wiederfinden sollten. Nicht nur sind Frauen mit nur vier Senatorinnen im zwölfköpfigen Senat (und nur sieben der 16 Staatsräte) deutlich unterrepräsentiert – zumal ihr Anteil an der Bevölkerung bei mehr als 50 Prozent liegt.

Wer die Liste der zwölf Senatoren und 16 Staatsräte durchgeht, stößt auch auf keinen Herrn García oder Kim, auf keine Frau Yavuz oder Makelele. Das Führungspersonal heißt Möller, Holstein oder Günther: Hamburgs Regierung besteht durchweg aus bürgerlichen „Biodeutschen“, wie Menschen ohne ausländische Vorfahren bisweilen scherzhaft genannt werden. Nicht ein Politiker mit Migrationshintergrund sitzt an führender Position im Rathaus. Das ist schon deswegen überraschend, weil der Anteil der Hamburger mit Migrationshintergrund bei 35 Prozent liegt. In der freien Wirtschaft haben es einige an die Spitze geschafft, aber in einen rot-grünen Senat kommt man offenbar als Mensch mit ausländischen Wurzeln nicht so einfach.

CDU habe die SPD beim Thema Integration überholt

Laut Definition des Statistikamts hat jemand einen Migrationshintergrund, wenn er selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Dass sich kaum jemand aus dieser Gruppe, die mehr als ein Drittel des Hanseatenvolkes ausmacht, in Führungspositionen in Politik oder Verwaltung findet, sorgt derzeit vor allem bei Einwanderergruppen für Ärger – auch befeuert durch Debatten über „strukturellen Rassismus“ nach der Ermordung des US-Amerikaners George Floyd durch Polizisten.

„Hamburg hat eine weitere Chance verpasst“, sagt etwa Murat Kaplan, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Hamburg (TGH) und selbst Mitglied der SPD. „Der Anspruch von Weltoffenheit ist leider wieder nicht im Senat angekommen.“ Gerade SPD-Mitglieder seien enttäuscht, sagte Coskun Costur, Vorstandsvize der Arbeitsgemeinschaft Selbstständige in der SPD und Inhaber des Hamam Hamburg, dem „Elbe-Express“. Seine Partei sei beim Thema Führungspositionen für Migranten in Hamburg schlechter aufgestellt als die CDU. Die habe mit Ian Karan einen Mann mit Migrationshintergrund zum Wirtschaftssenator gemacht und mit Aygül Özkan eine Bürgermeisterkandidatin mit türkischen Wurzeln aufstellen wollen – was nur an deren Erkrankung gescheitert sei. Damit habe die CDU die SPD beim Thema Integration überholt. „Man redet jetzt viel über die USA“, so Costurs Fazit. „Es ist auch struktureller Rassismus in Deutschland vorhanden.“

Bürgermeister Tschentscher stellt den Koalitionsvertrag vor:

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Die Analyse des SPD-Integrationspolitikers Kazim Abaci fällt kaum besser aus. „Jede und jeder in unserer Gesellschaft soll uneingeschränkt an allen Bereichen des Lebens in Hamburg teilhaben können, auch in entscheidenden Führungspositionen. Das ist leider noch nicht der Fall“, so Abaci. „Menschen mit Migrationshintergrund in entscheidenden Ämtern im öffentlichen Dienst und in der Politik sind stark unterrepräsentiert.“ Dabei geht es wohl nicht nur um Regierungsämter. Eine Bestandsaufnahme, wie viele Leiter von Polizeikommissariaten oder Schulen Migrationshintergrund haben, dürfte ebenso ernüchternd ausfallen – bei Bezirksamtsleitern sind es exakt so viele wie im Senat: null.

Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund gestiegen

Für die in Hamburg lebende schwarze Aktivistin Zainab Lantan ist es „schon auffällig, dass es nicht einen einzigen schwarzen Menschen in der Bürgerschaft oder im Senat gibt“. Bei der Vertretung nicht-weißer Menschen, zu denen sie auch Zuwanderer etwa aus der Türkei zählt, gebe „es ganz offensichtlich Probleme“ in Hamburg. „Dabei ist es wichtig, dass wir sichtbar sind – auch in der Politik. Schließlich machen wir einen großen Teil der Hamburger Bevölkerung aus.“ Politik habe Vorbildfunktion für alle privaten und öffentlichen Bereiche und stehe somit „noch mehr in der Pflicht, diversitätsbewusst und diskriminierungssensibel zu handeln“, so Lantan.

Die Pläne von Neu-Senatorin Gallina für Hamburgs Justiz:

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Immerhin: In der Bürgerschaft stieg der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund auf ein knappes Fünftel. Die SPD verweist, wie auch Fraktionschef Dirk Kienscherf, zudem darauf, dass mit Aydan Özoguz und Metin Hakverdi zwei ihrer Bundestagsabgeordneten ausländische Wurzeln haben. Die CDU betont, dass es ihr Bürgermeister Ole von Beust gewesen sei, der Einbürgerungsfeiern und eine Einstellungsoffensive für Migranten gestartet habe – im Ergebnis hatte zuletzt rund ein Fünftel der neuen Auszubildenden der Verwaltung einen Migrationshintergrund.

Die FDP-Einzelabgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein nennt die Zusammensetzung des Senat ein „schwaches Zeichen“. Und Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir konstatiert: „Ja, in der Bürgerschaft ist die Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund gestiegen, aber dass bundesweit kaum Menschen mit Migrationshintergrund in den wichtigen Ämtern, Positionen und Entscheidungsgremien sitzen, zeigt doch, wie groß die Schieflage ist.“ AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann ätzt derweil mit Blick auf den Senat: „Es ist bezeichnend, dass Rot-Grün unsere Gesellschaft und unsere Art zu leben massiv verändern will, aber die Funktionselite aus weißen Männern und Frauen besteht.“

Hamburgs SPD-Spitze tut sich schwer mit Selbstkritik

Bei den Grünen gibt man sich vorsichtig selbstkritisch: „Unser Ziel ist es, dass sich die kulturelle Vielfalt unserer Stadt noch stärker im Politikbetrieb widerspiegelt“, sagte die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank dem Abendblatt. Die Regierungsparteien hätten „viele hoch engagierte und fähige junge Politiker*innen mit Migrationshintergrund in ihren Reihen, die in den nächsten Jahren Verantwortung für die Stadt übernehmen können. Wir müssen uns noch mehr anstrengen, sie zu fördern und frühzeitig in politische Ämter zu wählen“, so Fegebank. Sie sei zuversichtlich, dass sich „die Vielfalt auch im Hamburger Senat erhöhen wird“.

Auch Grünen-Chefin und Justizsenatorin Anna Gallina konstatiert: „Der Senat ist die Regierung aller Menschen, die in Hamburg leben. Da sich Vielfalt und Teilhabe aber auch durch Repräsentanz abbilden, ist hier zweifellos Luft nach oben.“ Allerdings musste gerade die Grünenspitze zuletzt Kritik aus der Zuwanderer-Gemeinde einstecken, weil sie zwei eigene Abgeordnete mit Migrationshintergrund aus der Bezirksversammlung Mitte öffentlich des Islamismus verdächtigte – ein Vorwurf, den sie nie nachhaltig belegen konnte.

An der SPD-Spitze tut man sich schwerer mit der Selbstkritik. Weder Bürgermeister Peter Tschentscher noch SPD-Chefin Melanie Leonhard, als Sozialsenatorin auch fachlich für die Inte­gration zuständig, wollten sich zu dem Thema äußern. Stattdessen ließen sie die Senatssprecherin auflisten, was Hamburg alles für das Ziel tue, dass die „hamburgische Verwaltung einschließlich der Spitzenpositionen die kulturelle Vielfalt der Bevölkerung widerspiegelt“. Die Frage, warum sich ausgerechnet im Senat, für dessen Personalauswahl beide die Verantwortung tragen, diese Vielfalt nirgends widerspiegelt, bleibt damit offen.

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Das sei „neben dem geringen Frauenanteil ganz klar ein Defizit dieser Regierung“, urteilt mit Politikwissenschaftler Prof. Kai-Uwe Schnapp auch ein neutraler Beobachter. „Was die Teilhabe von Migranten angeht, waren wir als Gesellschaft in der Vergangenheit aber insgesamt nicht aufmerksam genug. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern für viele Bereiche, auch für viele andere Führungspositionen“, so Schnapp. „Im Zuge der aktuellen Diskussion über strukturellen Rassismus, die jetzt aus den USA zu uns kommt, muss sich das ändern – und bei künftigen Senatsbildungen muss man auf diesen Punkt achten.“