Hamburg. Die Partei, die auf einer Welle von Rekord-Umfragewerten in den Wahlkampf gesurft ist, bekommt Gegenwind – von allen Seiten.

Es gab schon glücklichere Tage für Grünen-Politiker als diese. Ausgerechnet die Partei, die sich auf der Höhe des Zeitgeistes wähnt und mit viel Rückenwind aus den Medien unterwegs schien, weht plötzlich ein eisiger Gegenwind ins Gesicht. Ausgerechnet die Partei, die bislang eher mit Samthandschuhen wahlkämpft, bekommt einen linken Haken nach dem nächsten ab. Everybody’s Darling hat sich in Hamburg fast über Nacht in Everybody’s Depp verwandelt.

Offenbar hat der Aufschwung der Öko-Partei, die in den vergangenen Jahrzehnten bei keiner Bürgerschaftswahl groß über die Marke von zwölf Prozent hinauskam, viele Widerstandsgeister geweckt. Sie sind für fast alle anderen Parteien zum Lieblingsgegner avanciert, wenn es darum geht, sich auf ihre Kosten zu profilieren.

Den einen gehen die Grünen nicht weit genug – den anderen viel zu weit

Die Wirtschaft trommelt schon länger gegen die Partei und ihren „Blockadekurs“, auch der Umweltverband BUND grätschte in der vergangenen Woche gegen die Grünen. Inzwischen schießen sich Aktivisten von links und rechts ein, in den sozialen Netzwerken werden die Güllekanonen auf die Partei gerichtet: Den einen gehen die Grünen viel zu weit, den anderen eben nicht weit genug.

Frageportal und Kandidatencheck von abgeordnetenwatch.de

Für die einen sind sie Chaoten, für die anderen Verräter der linken Sache. Pardon wird nun, einen Monat vor der Wahl, nicht mehr gegeben, für Differenzierungen ist im Wahlkampf ohnehin kaum Platz. Fair ist das nicht – und es trifft viele grüne Politiker inzwischen auch persönlich. Die Fröhlichkeit und Leichtigkeit, mit der die Partei zur Eroberung des Rathauses ansetzte, ist verflogen. Und etwas fassungslos blicken manche auf die Dynamik der vergangenen Tage.

Die Grünen setzen auf Blümchen-Wahlkampf – ihre Gegner auf Empörung

Während die Grünen ihren Blümchen-Wahlkampf fortsetzen, mähen die politischen Gegner rüde über das Spielfeld. Am Wochenende ist die Empörung wieder hochgeschlagen. Was war passiert? Die Grünen ruderten bei ihrem Parteitagsbeschluss zurück, wonach eine Vermummung bei einer Demonstration von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden sollte.

Die weiteren Teile des Wahltagebuchs:

Ich entsinne mich meiner kritischen Kolumne, in der ich vor einem halben Jahr schrieb: „Wer wie weiland beim G-20-Gipfel mit Sturmhaube durch die Stadt marschiert, darf nun mit der Gnade der Grünen rechnen: Vermummung wäre fortan nur noch eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat mehr. Mit einer solchen Änderung hätte man der Polizei fortan bei jeder Radikalendemo den Schwarzen Peter zugespielt: Greift sie ein, wird es heißen, sie eskaliere ohne Not. Schaut sie zu, wäre sie am Ende ebenfalls schuld. Die grüne Volkspartei kokettiert hier mit dem linken Rand.“

Zurückrudern beim Vermummungsverbot

Das Echo war überschaubar, damals galten Vermummungen kaum als großes Thema. Heute sind sie plötzlich ein Riesenaufreger.

Inzwischen ist das auch vielen Grünen aufgegangen - beim ersten Bürgermeisterduell setzte Peter Tschentscher (SPD) gegen Fegebank hier den ersten empfindlichen Wirkungstreffer. Parteiintern haderten schon manche mit dieser Schnapsidee zum Demonstrationsrecht, am Wochenende gingen die Bürgermeisterkandidatin Katharina Fegebank wie Justizsenator Till Steffen in die Offensive. In Gesprächen mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beziehungsweise der „Welt am Sonntag“ schwenkten sie um.

Häme und Verachtung für die Kurskorrektur der Grünen

Man darf den Vorgang unprofessionell finden, er ist aber zugleich eine selbstkritische Kurskorrektur. Die ist in der Demokratie nicht nur erlaubt, sondern wünschenswert, ja ihr Lebenselixier. Konrad Adenauer, dem der schöne Satz „Was kümmert mich ming Je­schwätz von jestern?“ zugeschrieben wird, hat es einmal so formuliert: „Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden.“

Adenauer kannte nur die sozialen Netzwerke noch nicht. Bei Facebook mischen sich Häme und Verachtung. „Grüne haben Profilneurosen“, schmettern da manche, oder „Frau Fegebank sollte mal darüber nachdenken, ob sie nicht in der falschen Partei ist“. Und Marco Alexander Hosemann von den Linken schreibt: „Dass sich die Grünen verbiegen und ihre Grundsätze über den Haufen schmeißen können, ist mir ja seit Moorburg und Elbvertiefung bekannt, aber dass sie ihre Biegsamkeit schon vor möglichen Koalitionsverhandlungen so zur Schau stellen, überrascht mich sehr ...“

Allein die Fallhöhe macht die Grünen interessant

Der CDU-Innenexperte Dennis Gladiator kritisiert: „Die Grünen dürfen nicht länger Verantwortung für unsere Stadt tragen!“ Die Partei, so schreibt er, habe sich „mal wieder ideologisch verrannt und jetzt, wo es deutlichen Gegenwind gibt, wird mal kurzerhand alles auf den Kopf gestellt.“

Klar, das würde die CDU natürlich nie machen – die hatte den Atomausstieg und offene Grenzen ja immer schon im Programm stehen. Auch die Kommentatoren spitzen ihre Stifte. Allein die Fallhöhe macht die Grünen interessant. „Die Grünen stolpern derzeit auch über kleine Steine“, kritisiert welt.de.

Im Wahlkampf geht es mehr um den Streit als um die Sache

Im Wahlkampf geht es eben weniger um die Sache als vielmehr um den Streit. Schon in der vergangenen Woche hatte ein CDU-Mann in Diensten der SPD das erste grobe Foul des Wahlkampfs verübt – natürlich an den Grünen. Das klingt etwas kompliziert, ist es auch: Bürgermeister Tschentscher hatte als Finanzsenator den Sprecher Daniel Stricker seines Vorgängers von der CDU nicht nur weiterbeschäftigt, sondern sogar befördert.

Inzwischen ist das CDU-Mitglied Büroleiter des Bürgermeisters und kritisierte wie sein Chef die Vermummungspläne der Grünen. Das tat Stricker aber in einer anderen Tonlage. Er twitterte „#grünistgewaltbereit“. Die von Anjes Tjarks geforderte Entschuldigung blieb aus. Ein Wahlkampf ist nichts für Zartbesaitete, aber dieser Tiefschlag hat viele Grünen getroffen. Vertrauensfördernd ist das alles nicht.

Alle gegen die Grünen – wohin führt das?

Früher spielt man „Hau den Lukas“, heute spielt der Zeitgeist plötzlich „Hau die Grünen“. Und sollte diese Tonlage in den kommenden Wochen anhalten, könnte das Grünen-Bashing nur die Ouvertüre einer Politik sein, die danach so weitermacht. Der gemeinsame Hauptgegner der CDU, der FDP und der SPD sind die Grünen – ob daraus am Ende eine Deutschland-Koalition erwächst?

Von den Avancen, die Christdemokraten und auch einzelne Liberale der grünen Spitzenkandidatin noch vor einigen Wochen machten, ist nicht viel geblieben. Wer heute auch nur einen Cent auf Jamaika setzt, ist ein ziemlicher Spekulant. Auch wenn Wahlkampf kein Kirchentag ist, werden nicht alle Wunden, die heute manche Wahlkämpfer schlagen, so einfach vernarben.