Wilhelmsburg. Berghain-Legende Marcel Dettmann, Ferrari Rot – am Wochenende wird durchgetanzt. Gelände gleicht einem Spieleparadies für Erwachsene.
Noch wenige Tage, dann sollen hier über 6000 Raverinnen und Raver zusammen zu Techno tanzen, wer möchte 32 Stunden nonstop. An diesem Morgen scheint das MS Artville-Gelände in der Alten Schleuse gerade aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen. Diskokugeln glitzern verstohlen in der Sonne, einige Kunstobjekte aus den vergangenen Festival-Saisons lugen noch schüchtern hinter grünem Dickicht hervor, während Künstlerinnen-Teams sowie Aufbauhelfer das Habitat vorbereiten, das erste Festival des Jahres vom Hamburger Veranstalter Kopf-und-Steine errichten.
Habitat in Wilhelmsburg: Festivalgelände erwacht aus Dornröschenschlaf
Ein erstes Schadenskataster nach dem Winter wurde für das Gelände bereits im April erstellt, seitdem sind hier rund 200 Menschen zu Gange. Gerade fährt ein Gabelstapler über die Wiese links neben dem Eingang, wo die „Idylle“ den Festivalgästen am kommenden Wochenende Platz zum Ausruhen bieten soll, und zirka einhundert Meter gen Mitte verleiht eine Frau mit Pinsel dem Ungeheuer von Loch Ness violette und rosafarbene Schuppen.
Rund um einen knorrigen Stamm werden die hölzernen Sitzflächen neu gestrichen und gleich dahinter hebt Mitarbeiter Eike Eberhardt einen dornigen Brombeerzweig hoch, um den Weg ins „Tiefland“ freizumachen. Wer möchte, kann auch die knallrote Rutsche nehmen – um auf einem hellblauen Dancefloor zu landen, der an eine alte Badeanstalt erinnert. Wer hätte das gedacht? Hier wird das Bild perfekt: Willkommen im Spieleparadies für Erwachsene!
Auch alte Hasen können 2024 in Wilhelmsburg Neues entdecken
Das Gelände ist so wunderbar verwunschen, dass man hier auch ohne Trubel, Bass und Lichtinstallationen sicher Stunden auf Entdeckungstour gehen kann, ohne sich zu langweilen. „Aber Vorsicht“, warnt Eberhardt: „Brombeeren bitte nicht essen.“ Man wisse nicht, wie gut die Bodenqualität sei, das Gelände habe schließlich einmal dem Mineralöl- und Erdgaskonzern Shell gehört.
Die Festivals von Kopf-und-Steine finden hier zu dritten Mal statt. 2022 mussten sie von ihrem ursprünglichen Standort aus, dem Flugplatz Hungriger Wolf in der Nähe von Itzehoe, umziehen. Aber auch wer das Gelände schon aus den vergangenen Jahren kennt, kann 2024 Neues entdecken.
Ferrari Rot spielte in diesem Jahr auf der Turmbühne des Fusion-Festivals
Mindestens fünf neue Kunstwerke soll es zu sehen geben, verspricht Eberhard, darunter ein neues Mural von Krashkid. Der größte Floor „Radar“ wurde außerdem komplett neugestaltet und auch die Location „Limbus“, wo gleich kurz nach Festival-Beginn, am Samstag um 16 Uhr, der Berlin-Trackservant Platten versteigert, hat durch das Künstler-Duo Juri und Greta ein komplettes Redesign erfahren.
Insgesamt sollen beim Habitat von Samstag, 14 Uhr, bis Sonntag, 22 Uhr, wieder sieben Bühnen bespielt werden. Das Line-up kann sich sehen lassen: Ferrari Rot, die erwartungsgemäß mit ordentlich Zunder den Radar eröffnet, war vor ein paar Wochen auf der Turmbühne des Fusion-Festivals zu erleben, ab 18 Uhr ist dann Berghain-Legende Marcel Dettmann auf derselben Bühne zu sehen und zu hören.
Das Dresdner Duo Ätna lädt am Sonnabend ab 21.30 Uhr im „Butterland“ in neue Sphären ein, gefolgt von Extrawelt – spätestens hier dürften Technofans große Augen kriegen. Außerdem mit dabei ist Produzentin und DJane Anja Schneider und die Ukrainerin Daria Kolosova. Für Licht, das spätestens nach Sonnenuntergang essenziell werden wird, sorgen die Kollektive KunstLicht.Hamburg, Neologism und Felix Borde, FC Pani bespielt das Gelände mit Mappings und Silvio Wagner lässt einen Lasertunnel entstehen.
Das Line-up bietet, nicht nur was männliche und weibliche Acts angeht, viel Abwechslung, harte und ruhigere Töne, Musik zum Stampfen, aber auch zum Wegträumen. Neu ist Techno-Tischtennis auf dem Floor „Tentakel“: Pingpong zu lauter Musik. Die Hamburger Partyreihe war schon im Südpol oder im Hafenklang zu Gast, aber bisher noch nie beim Habitat mit dabei.
Auch NGOs sind auf dem Festival mit Infoständen vertreten
Wer keine Lust auf Bewegung hat, kann aber auch den Kiosk vom Ete-Kollektiv durchforsten, Leckerbissen an den Essensständen finden, sich an Infoständen über verschiedene NGOs informieren oder sich tätowieren lassen.
Man darf aber auch einfach nur staunen: über einen echten Thomas Dambo beispielsweise. Der von dem dänischen Künstler entworfene Holzkopf ist kaum zu übersehen. Oder auch über die vielen umgesetzten Ideen zur Wiederverwertung. Aus ausrangierten Dixies wachsen Blumen und aus Containern, die am Hamburger Central Park an der Max-Brauer-Allee standen, ist eine neue Bar entstanden.
Habitat-Festival: Die 32 Stunden Rave sind als Angebot zu verstehen
Es gebe viele Orte zum Zur-Ruhe-kommen, betont Eberhardt, und sowieso seien die 32 Stunden als Angebot zu verstehen. Viele Gäste seien nach einer durchtanzten Samstagnacht wieder weg, einige kämen später am Sonntag zu ihren Lieblings-Acts wieder, viele auch nicht. Das Habitat hat einen Pluspunkt, den die meisten Techno-Festivals nicht haben: Es ist an den Nahverkehr angeschlossen.
Deswegen bieten die Veranstalter Sonntagstickets an, wer also den Platz verlässt und nicht wiederkommt, gibt einen Platz frei. Diese Tickets für einen Tag sollen 40 Euro kosten. Wie viele Tickets á 100 Euro für beide Tage im Vorverkauf schon verkauft wurden, will Eberhardt nicht verraten, nur dass das Festival noch größer sein soll als bei seiner Ausgabe im vergangenen Jahr.
Seinerzeit kamen knapp 6000 Leute. Und zwar – wohlgemerkt – dem schlechten Wetter zum Trotz: Am Sonntagabend sei es 2023 bei 16 Grad so gar nicht sommerlich gewesen, erinnert sich Eberhardt, und trotzdem sei die Stimmung top gewesen.
32 Stunden ohne Pause – diese kollektive Erfahrung schweißt zusammen
Warum eigentlich? Warum soll es schön sein, 32 Stunden draußen zu sein, bei Wind und Wetter? Möglicherweise ist es die kollektive Erfahrung, die Festival-Sonntage so berauschend macht, – weil man sich nach so vielen Stunden schon so oft über den Weg gelaufen ist, man schon so viel gemeinsam erlebt hat und es langsam, ob von Regen durchnässt oder völlig verschwitzt, egal wird, wie man aussieht oder was man vorher gemacht hat.
Vielleicht hege man nach 32 Stunden schon Survivorship Bias, entgegnet Eike Eberhardt scherzhaft, vielleicht sei es auch positive Überforderung durch das Angebot. Das Pausenlose wohne außerdem der Musik inne, die Form spiegele somit den Inhalt wider. Feststeht: Kein Hamburger Club bietet ein solch üppiges Programm an einem Wochenende. „Wir halten das für ein sehr schönes Erlebnis“, sagt Eberhardt.
Habitat-Festival: 20-köpfiges Awareness-Team soll Probleme bewältigen
Für diejenigen, die kein schönes Erlebnis haben, die stattdessen Belästigungen, Diskriminierungen oder eine Überdosierung von Rauschmitteln erleben, steht am kommenden Wochenende ein rund 20-köpfiges Awareness-Team bereit. Dieses arbeitet, wie auch alle anderen Crews auf dem Festival, in Schichten. Es variiere, wie viele Ansprechpartnerinnen und -partner im Einsatz seien, zu den Hauptzeiten seien es aber mindestens zehn, die unter einer Notfallnummer erreichbar sind, führt Eberhardt aus.
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Dazu gebe es ein Zweierteam, speziell ausgebildet für Psy-Care. Im Techno-Umfeld werde viel konsumiert, gibt Eberhardt zu Bedenken, da sei es wichtig, Ansprechpartner vor Ort zu haben, die Menschen in schwierigen Situationen unterstützen können. Es bleibt zu hoffen, dass die Lage am Wochenende entspannt bleibt und das 20-köpfige Team für über 6000 Gäste ausreicht.