Buchholz. Die 17 Jahre alte Turn-WM-Starterin wechselt an den Bundesstützpunkt Chemnitz. Wie sie ihrem Ausbildungsverein trotzdem verbunden bleibt.
„Wir haben sie lange auf ihrem Weg begleitet. Haben alles getan, was wir tun konnten. Aber nun ist sie flügge geworden und macht den nächsten Schritt.“ Gefasst, fast nüchtern beschreibt Susanne Tidecks die Situation, ohne zu offenbaren, wie es tatsächlich in ihr aussieht. Der Zuhörer kann nur mutmaßen: Es wird wohl eine Mischung sein aus Wehmut über den Abschied, Stolz auf das Erreichte und Vorfreude darauf, was das nächste Kapitel der Kunstturn-Trainerin und Abteilungsleiterin von Blau-Weiss Buchholz wohl bringen wird.
Was ist passiert? Ihre mit Abstand beste Athletin hat zum 31. Dezember die Kündigung beim zweitgrößten Sportverein im Landkreis Harburg eingereicht. Karina Schönmaier verlässt Blau-Weiss und wird sich zum 1. Januar 2023 voraussichtlich dem TuS Chemnitz-Altendorf anschließen.
DTB-Pokal im Frühjahr, DM-Silber im Juni, Weltmeisterschaften im Oktober
Die 17-Jährige aus Bremen war in diesem Jahr steil in den Kreis der besten deutschen Turnerinnen aufgestiegen. Im Frühjahr beim DTB-Pokal in Stuttgart die Premiere auf internationaler Bühne, im Juni bei den deutschen Meisterschaften in Berlin Silber am Sprung und Ende Oktober der Start bei den Weltmeisterschaften in Liverpool. Dort erreichte Schönmaier als einzige Vierkämpferin des DTB das Mehrkampffinale und belegte letztlich Rang 22.
Schon in den vergangenen Jahren war sie eine von wenigen, wenn nicht die einzige Turnerin auf diesem Niveau, die nicht an einem Turnleistungszentrum trainierte. Gemeinsam mit Heimtrainerin Katharina Kort trainierte Schönmaier weiter beim TuS Huchting in Bremen, zum überwiegenden Teil allerdings bei Blau-Weiss Buchholz. „Wir haben ein ganzes System um sie herum aufgebaut. Haben die Athletin und die Trainerin geschult“, sagt Susanne Tidecks. Worte, die den Aufwand nur erahnen lassen.
Ex-Bundestrainer Wolfgang Bohner schulte Schönmaier häufig in der Nordheide
Ein Beispiel: fünf- bis achtmal im Jahr kommt der ehemalige Bundestrainer Wolfgang Bohner, heutzutage selbstständig, nach Buchholz, um mit Karina Schönmaier und weiteren Spitzenathletinnen aus dem Turn-Team Kiehn Group Lüneburg-Buchholz Videoanalysen und Technikschulungen durchzuführen. „Er hat einen unglaublichen Blick für die kleinesten Kleinigkeiten“, so Tidecks.
Ein Blick, der auch die beste Buchholzer Turnerin weiterbrachte. 2022 absolvierte Karina Schönmaier mehrere Bundeskaderlehrgänge, kam mit anderen Kadermitgliedern ins Gespräch und hörte von deren Umfeld. Im Sommer absolvierte sie eine Probe-Trainingswoche am Bundesstützpunkt in Chemnitz und schien angetan. Schon in der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaften verbrachte die Bremerin jede Menge Zeit in Sachsen, trainierte zusammen mit Schwebebalken-Europameisterin Emma Malewski (ehemals KTG Lüneburger Heide) und unter Anleitung von Stützpunkttrainer Anatol Ashurkov, mit dem sie sich auf Russisch unterhalten kann.
Training, Physiotherapie und Schule sind fast nur an einem Internat vereinbar
Nun verlegt die Schülerin ihren Lebensmittelpunkt komplett dorthin. „Zwei Trainingseinheiten am Tag, kombiniert mit Physiotherapie und Schule – das kann man auf diesem Niveau eigentlich nur im Internat abbilden“, sagt Susanne Tidecks. „Für Karina ist es an der Zeit, diesen Schritt zu machen. Sie kann das und sie will das.“ Erste Veränderungen seien bereits sichtbar. „Karina hat in den vergangenen Monaten eine Schippe draufgelegt, ist eine selbstbewusste junge Frau geworden. Das merkt man an ihrem Ausdruck und ihrer Ausstrahlung während der Übungen“, so Tidecks.
Von der gewachsenen Infrastruktur profitieren die nächsten Turnjahrgänge
Aller Voraussicht nach wird sich auch Katharina Kort aus Buchholz verabschieden und sich fortan auf die Trainingsarbeit beim TuS Huchting konzentrieren. „Auch sie ist mitgewachsen und flügge geworden“, sagte die Blau-Weiss-Abteilungsleiterin ohne Groll. Mit den Zugpferden Kort und Schönmaier an der Spitze wuchs in den vergangenen Jahren die Infrastruktur für das weibliche Gerätturnen in Buchholz enorm. „Davon profitieren jetzt alle“, sagt Susanne Tidecks, die wieder mehr an sich denken will: „Ich trainiere jetzt eine Nachwuchsgruppe mit Vier- bis Siebenjährigen. Das ist total entspannt und macht mir richtig Spaß.“
Es ist nicht die einzige Aufgabe der umtriebigen Winsenerin. Sie ist auch Managerin, Trainerin und Hauptorganisatorin des Turn-Teams Kiehn Group Lüneburg-Buchholz. Die erste Mannschaft war vor Jahresfrist in die 1. Frauen-Bundesliga der Deutschen Turn-Liga (DTL) aufgestiegen und schaffte in dieser Saison souverän den Klassenerhalt. In der Gesamttabelle steht Rang sechs unter acht Vereinen zu Buche.
2023 will Schönmaier weiter für TT Lüneburg-Buchholz in der 1. Liga turnen
Nur der Dresdner SC als Schlusslicht muss in die 2. Bundesliga absteigen, 2023 neu dabei ist der TSV Berkheim. Karina Schönmaier war die wichtigste Punktesammlerin für das Turn-Team, das unabhängig vom Startrecht bei Einzelwettkämpfen Athletinnen mehrerer Vereine umfasst.
Daran schließt sich eine gute Nachricht an, denn Schönmaier hat signalisiert, in der Saison 2023 weiter für das Turn-Team Lüneburg-Buchholz in der 1. Bundesliga antreten zu wollen. Dafür muss sie nicht Mitglied bei Blau-Weiss Buchholz sein. „Der Heimatverein ist ihr wohl näher als das neue Team“, mutmaßt Susanne Tidecks. Die Managerin hat mehrere Anfragen externer Turnerinnen auf dem Tisch und bastelt an der neuen Mannschaft.
Zweites Jahr im Oberhaus: „Wollen beweisen, dass wir in diese Liga gehören“
„Die Stammturnerinnen werden ihre Plätze behalten. Es könnte aber Veränderungen geben“, sagte sie. Bis Januar sollen alle Personalentscheidungen getroffen sein, der erste Bundesliga-Wettkampf folgt voraussichtlich im April, auf die Ausrichtung eines Wettkampftages in der Nordheidehalle (wie im Juli 2022) will Blau-Weiss Buchholz allerdings verzichten. „Alle brauchen erstmal Ruhe.“
Im Turnen wie in anderen Sportarten gilt gemeinhin die zweite Saison nach dem Aufstieg als die schwierigste. „Wir waren unbedarft, haben uns einfach gefreut, mit den besten deutschen Turnerinnen am Start zu sein und haben ein Stück weit von der Euphorie gelebt“, sagt Tidecks rückblickend. „In der neuen Saison müssen wir uns anders präsentieren, wollen beweisen, dass wir in diese Liga gehören.“ Und wahrscheinlich kann das Turn-Team dann auf eine Karina Schönmaier zählen, die nach dem nächsten schritt in ihrer Karriere noch stärker geworden ist.