Harburg. 259 Messingplaketten erinnern in Harburg an Opfer des NS-Terrors. Jetzt kamen noch drei dazu. Putzpaten kümmern sich um die Mahnmale.
Karl Karcz wurde 51 Jahre alt. Am 6. Februar 1933, die Machtergreifung der Nazis in Berlin war kaum eine Woche her, umstellten SA-Leute das Arbeiterlokal „Stadt Hamburg“ am Großen Schippsee in Harburg und schossen auf die Gäste, die herausströmten, um sich ihnen entgegenzustellen. Der Kommunist Martin Leuschel und der Sozialdemokrat Karl Karcz wurden schwer verletzt und starben, Leuschel Stunden, Karcz Wochen später an ihren Verletzungen. Es war der erste politische Mord der Nazis in Harburg, der letzte, gegen den es eine Demonstration gab und Leuschel und Karcz waren die ersten getöteten Harburger Widerständler.
Harburgs Stolpersteine können den Zahlen persönliche Dimensionen verleihen
Am Sonnabend wurde Karl Karcz am einstigen Ort des Geschehens, am heutigen Herbert-und-Greta-Wehner-Platz, verewigt. Der Künstler Bernd Schümann klopfte eine Messingplakette in das Pflaster des Platzes, einen sogenannten Stolperstein. Schümann gehört zum Team des Stolperstein-Erfinders Günter Demnig. Mittlerweile über 100.000 dieser Plaketten erinnern in Deutschland und den Nachbarländern an die Menschen, die an den Orten der Steine lebten oder arbeiteten, bis die Nazis sie entweder an Ort und Stelle ermordeten oder sie abholten und anderswo umbrachten.
259 Stolpersteine liegen in Harburg. Weder sie noch die 100.000 insgesamt können die ganze Dimension des Nazi-Terrors darstellen. Aber sie können, und das ist die Idee von Günter Demnig, dem, was sich hinter unfassbaren Zahlen verbirgt, wieder persönliche Dimensionen verleihen. An diesem Sonnabend wurden noch drei weitere Steine verlegt: In der Bremer Straße und der Denickestraße für Johanna Gmur und Walter Krieg, die in „Heilanstalten“ des dritten Reichs umkamen und für Moritz Sachse, der verhaftet wurde, weil er sich über seinen Blockwart beschwert hatte und so schwer misshandelt wurde, dass er Jahre später an den Folgen starb.
Fast 60 der 259 Harburger Stolpersteine wurden für Menschen aus dem Widerstand verlegt
Für Karl Karcz gibt es bereits einen Stolperstein in der Bornemannstraße, wo Karcz zuletzt gewohnt hatte. Initiator des zweiten Steins war Günter Wincierz von der Harburger Geschichtswerkstatt, die wiederum Teil der Initiative „Gedenken in Harburg“ ist, welche Schirmherrin der Harburger Stolpersteine ist. „Ich wollte, dass auch am Ort des Mordes an Karl Karcz erinnert wird“, sagt Wincierz. „Der Stolperstein für Martin Leuschel liegt hier ja schon.“
Fast 60 der 259 Harburger Stolpersteine wurden für Menschen verlegt, die sich –offen, wie Leuschel und Karcz, oder im Untergrund, wie viele nach ihnen – aktiv gegen das Nazi-Regime engagierten, die meisten von ihnen Sozialdemokraten oder Kommunisten. Blickt man in die Schulgeschichtsbücher, kann man den Eindruck gewinnen, dass der antifaschistische Widerstand an den Tennisplätzen des Reichs organisiert wurde. Die Stolpersteine widerlegen dieses Bild. Widerständler sind, zumindest in Harburg, die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden, die einst hier lebten.
Mit dem Verlegen von Stolpersteinen ist es aber nicht getan. Die Messingplatten verwittern; zwar nicht rasant, aber kontinuierlich. Viele haben deshalb „Putzpaten“. So hat etwa die Kneipengenossenschaft „Zur Stumpfen Ecke“ gelobt, sämtliche Stolpersteine in der Rieckhoffstraße– hier liegt die mindestens 111 Jahre alte Kneipe und hier lebten jüdische Familien – zu pflegen und der SPD-Distrikt Harburg-Nord kümmert sich um alle 20 Steine in Heimfeld.
Ausgerüstet mit Lappen, Scheuermilch, Essig und Wasser gehen die Stolperstein-Pfleger zu Werk. Die SPD macht aus ihrer Putzaktion auch einen lehrreichen Gedenkrundgang. An jedem Stein wird die kurze Biografie des NS-Opfers verlesen und eine Rose abgelegt. „Es ist wichtig, sich immer vor Augen zu führen, wohin es führt, wenn man den demokratischen Diskurs verachtet und seine Gegner entmenschlicht“, sagt der stellvertretende SPD-Distriktsvorsitzende Volker Muras, der den letzten Putzrundgang leitete.
Jan Dohrmann von der Kneipengenossenschaft „Zur Stumpfen Ecke“ führt noch ein anderes Motiv ins Feld: „Wir erforschen gerade die Geschichte unserer Kneipe“, sagt er. „Und wir wissen nicht, was in diesen Räumen zwischen 1933 und 1945 geschah. War hier ein Widerstandsnest oder wurde hier seelenruhig weitergetrunken, während nebenan die Familien Abosch, Findling, Greif, Marcus und Apteker deportiert wurden? Oder gingen hier gar Nazis und ihre Sympathisanten ein und aus? Wir verstehen die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“
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Zwei- bis dreimal im Jahr benötigt ein Stolperstein die Zuwendung mit Lappen und Politur. Pro Stein beträgt der Zeitaufwand keine zehn Minuten. Dennoch hat die Initiative „Gedenken in Harburg“ noch viele Stolpersteine ohne Putzpatenschaften. Wer Interesse hat, kann sich über die Website www.gedenken-in-harburg.de oder die E-Mail-Adresse info@gedenken-in-harburg.de an die Initiative wenden.