Wilhelmsburg. Projekt vermittelt erfolgreich Jobs in der Nachbarschaftshilfe für Menschen über 60. Senioren und Kunden nehmen das Konzept dankbar an.

Vor der Honigfabrik in Wilhelmsburg parkt ein weißer Transporter. Wer sich viel im Viertel bewegt, ist ihm vielleicht schon häufiger begegnet. Auf der Seite des Autos sind gezeichnete Menschen abgebildet, bunt und vielfältig – einer schwingt den Besen, ein anderer steht mit einer Malerrolle parat, ein dritter hebt einen Schraubenzieher in die Luft. Außerdem steht da in großen Lettern: „In neighbourhood we trust!“. Und, auf einer Tafel: „Wir suchen dich: 60+“. Die meisten Leute, die vorbeilaufen, werfen einen neugierigen Blick auf den Transporter und gehen weiter. Doch ein älterer Mann mit Fahrrad bleibt stehen, er scheint sich für die Tafel zu interessieren. „Gehen Sie ruhig rein, mein Kollege sitzt drin“, ruft Babette Peters ihm zu. Der Mann lächelt und nickt, stellt sein Fahrrad ab und steigt ein.

Babette Peters ist die Ideengeberin und Initiatorin des Projektes „Minna+Willi“, einem Nachbarschaftsservice in Wilhelmsburg. Der weiße Transporter, der „Nachbarschaftskiosk“ ist die Zentrale, das mobile Büro. In ihm fährt Babette Peters mit ihrem Kollegen Felix Klein seit Juni 2023 an öffentliche Orte, um ihre Idee den Menschen nahe zu bringen und sie an Bord zu holen. Wer sich interessiert, kann reinkommen, sich mit den beiden unterhalten, „auf Kaffee und Keks“, wie Babette Peters sagt.

Wilhelmsburger Projekt ist eine Weiterentwicklung einer Idee aus Paris

„Unsere Idee ist es, eine analoge Anlaufstelle, eine Treffpunkt zu schaffen. Wir fahren in die Quartiere, zu den Menschen.“ Vorbild für Minna+Willi war das Projekt „Lulu dans ma rue“, das 2015 in Paris gegründet wurde. Anders als in Wilhelmsburg treffen sich die Leute dort vor stationären Straßenkiosken, um sich auszutauschen und im Alltag zu unterstützen.

Konkret vermittelt Minna+Willi Menschen, die kurz vor oder im Ruhestand einen Nebenverdienst suchen (Peters nennt sie „Akteure“), an Kunden im Viertel, die Unterstützungsbedarf haben. Darüber hinaus leistet oder vermittelt Minna+Willi auch soziale Beratung, wenn Menschen mit Problemlagen kommen. „Wie wichtig Nachbarschaftshilfe ist, wissen wir spätestens seit Corona“, sagt Babette Peters. 21 solcher Akteure und ungefähr 40 Kundenaufträge haben Peters und Klein seit Juni schon miteinander vernetzt. Ihr Anspruch sei, dass diejenigen, die helfen, etwas über Mindestlohn verdienen. „Das Angebot wird sehr gut angenommen“, findet Peters.

Günter Kutzke, Schuldiakon im Ruhestand, war der erste „Akteur“, der bei Minna+Willi unterschrieben hat.
Günter Kutzke, Schuldiakon im Ruhestand, war der erste „Akteur“, der bei Minna+Willi unterschrieben hat. © HA | Anna Riemann

Von der Fahrt zum Baumarkt, dem Anbringen von Rollos bis hin zum tropfenden Wasserhahn

Die Anliegen der Kunden sind dabei ganz unterschiedlicher Natur: Von der Fahrt zum Baumarkt, dem Anbringen von Rollos, der Pflege des Schrebergartens bis hin zum tropfenden Wasserhahn oder der Suche nach einem Babysitter oder Gitarrenlehrer ist alles dabei. Auch wer nur einmalig eine kleine Aufgabe zu vergeben hat, kann sich an Minna+Willi wenden.

Gefördert wird das Projekt für fünf Jahre im Rahmen des Programms „Stärkung der Teilhabe älterer Menschen – gegen Einsamkeit und soziale Isolation“ durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und über den Europäischen Sozialfonds Plus. Deutschlandweit werden darüber insgesamt 77 Projekte für ältere Menschen unterstützt. Minna+Willi ist dabei aber die einzige Neugründung eines Sozialunternehmens. Träger ist die Passage gGmbh, die zum Beispiel auch die Wilhelmsburger Kleiderkammer betreibt.

18 Prozent der Menschen über 65 Jahren in Hamburg armutsgefährdet

Das Projekt will dabei Menschen über 60 Jahren ansprechen – eine Zielgruppe, die häufig vernachlässigt wird, weil sie wenig Lobby hat, findet Babette Peters. Dabei waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2022 knapp 18 Prozent der Menschen über 65 Jahren in Hamburg armutsgefährdet – das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren.

Ich führe den Hund eines berufstätigen Paares aus. Wir haben uns angefreundet und laufen so durch die Gegend. So habe ich Bewegung und meine Woche wird ein bisschen strukturiert
Günter Kutzke - Erster Akteur von Minna+Willi in Wilhelmsburg

Babette Peters selbst war lange in der Kreativwirtschaft tätig, ursprünglich ist sie Kunsthistorikerin. Dabei entstand auch ihre Idee. „Ich habe unheimlich viele motivierte Leute getroffen, die aus einer intrinsischen Motivation heraus gearbeitet und ihre Projekte verfolgt haben. Leider geht das für die häufig solo-selbständig Tätigen oft mit prekären Arbeitsverhältnissen einher, für private Altersvorsorge bleibt da nicht viel übrig. Wenn man älter wird, werden die Aufträge auch oft weniger, man ist nicht mehr so gut vernetzt wie früher, es fehlt eine sinnvolle Aufgabe und Wertschätzung“. Nicht selten führe das auch zu Einsamkeit. „Da wollen wir ansetzen“, sagt Babette Peters.

„Dank Minna+Willi kann ch etwas sinnvolles machen und jemand anders hat etwas davon!“

Aber das Angebot wird natürlich nicht nur von Menschen aus der Kreativwirtschaft angenommen. Auch viele ehemalige Handwerker, Spediteure oder Tätige aus Gastronomie, Einzelhandel und sozialen Berufen kommen zum Nachbarschaftskiosk. Bisher waren mehr als die Hälfte der Akteure Männer – so auch Günter Kutzke. Er ist seit zwei Jahren im Ruhestand, arbeitete vorher als Sozialpädagoge und Schuldiakon. Manchmal fehlt ihm die Beschäftigung und die Rente ist nicht gerade üppig. Für ihn ist Minna+Willi eine „Win-Win-Situation“.

„So kann ich etwas sinnvolles machen und jemand anders hat etwas davon.“ Aktuell führt er mehrmals pro Woche den Hund eines berufstätigen Paares aus der Nachbarschaft Gassi. „Wir haben uns angefreundet und laufen so durch die Gegend. So habe ich Bewegung und meine Woche wird ein bisschen strukturiert“, erzählt Kutzke. Aufmerksam geworden ist er auf Minna+Willi, weil er immer wieder an dem bunten Transporter vorbeilief. „Da wurde ich neugierig“. Er war dann auch der erste Akteur, der sich eintragen ließ.

Wer mitmachen will, füllt einen Datenbogen aus. Das Projekt wird auch von einem anonymisierten, sozialwissenschaftlichen Fragebogen begleitet. „Es geht für die Fördermittelgeber auch darum, die Bedarfe der Menschen zu erfassen“, erklärt Peters. Für sie ist es wichtig, dass Begriffe wie Einsamkeit, Altersarmut und Isolation nicht stigmatisieren. „Bei uns sollen Spaß und Gemeinschaftsgefühl im Mittelpunkt stehen.“

„Durch unser mobiles Büro hat der Job auch immer ein bisschen was von Camping“

Babette Peters macht ihr Job auf jeden Fall Spaß. „Jeder Tag ist anders. Die Menschen kommen zu uns und haben Geschichten und Probleme dabei.“ Da käme das Leben dem Plan schon mal dazwischen. Es gehe auch viel darum, abzuschätzen, welcher Akteur zu welchem Kunden passt. „Durch unser mobiles Büro hat der Job auch immer ein bisschen was von Camping“, erzählt sie. Abends wird alles zusammengepackt und im Wagen festgebunden, das Nachbarschaftskiosk fährt zurück auf den Parkplatz bei den Zinnwerken. „So können wir natürlich auch unsere Betriebskosten minimieren.“

Um noch mehr Leute zu erreichen, verteilen Klein und Peters Handzettel, sind auf Straßenfesten präsent und planen Infoveranstaltungen. Auch Günther Kutzke hat über Minna+Willi Leute kennengelernt. „Es gab zum Beispiel einen gemeinsamen Adventsnachmittag, da kommt man ins Gespräch“, erzählt er. Er findet das Projekt auch deswegen gut, weil es direkt zu den Menschen kommt. „So entsteht auch eine Verbindlichkeit, ich vergleiche das mal mit einer Mitfahrzentrale“, erklärt er. „Jeder ist da über das Gespräch mit einem Dritten abgesichert, so weiß man auch, wen man in sein Haus lässt.“

„Minna+Willi“ sind an vielen Plätzen in Wilhelmsburg anzutreffen.
„Minna+Willi“ sind an vielen Plätzen in Wilhelmsburg anzutreffen. © HA | Anna Riemann

Auch Babette Peters und Felix Klein, der nach einem Master in Design durch eine Ausschreibung bei Minna+Willi gelandet ist, wünschen sich noch mehr Verbindlichkeit und regelmässigere Verdienstmöglichkeiten für ihre Akteure. Denkbar wären zum Beispiel kurzfristige Aushilfstätigkeiten im ansässigen Einzelhandel. Kürzlich haben Minna+Willi die Anfrage eines Reisebüros erhalten, das Unterstützung sucht. „Außerdem haben wir eine Spendenzusage der Haspa Wilhelmsburg bekommen für einen kleinen Feuerwehrtopf, der dann einspringt, wenn sich die Kunden die Alltagshilfe nicht leisten können. Mal sehen, wem wir auf diese Weise Unterstützung ermöglichen können“, erzählt Peters.

Aktuell haben Minna und Willi in Wilhelmsburg noch eine halbe Stelle ausgeschrieben

Ihre Hoffnung ist auf jeden Fall, dass sich das Projekt so verstetigt, dass ein Geschäftsmodell auch ohne Förderung denkbar wird. Aktuell haben Minna und Willi noch eine halbe Stelle ausgeschrieben. Gesucht wird idealerweise jemand mit Sozialarbeitserfahrung.

Der ältere Mann mit dem Fahrrad sieht jedenfalls zufrieden aus, als er aus dem Minna+Willi-Transporter aussteigt und losradelt. „Der 22. Akteur hat gerade unterschrieben!“, freut sich Felix Klein.