Harburg. Sollte sich der Verdacht der Forscher bei der aktuellen Grabung verdichten, müsste die Harburger Geschichte umgeschrieben werden.
- Ein kleiner Trupp Harburger Archäologen auf einem zentral gelegenen Eckgrundstück im Harburger Binnenhafen aktiv.
- Es gilt, diesem geschichtsträchtigen Ort möglichst viele Details zur Harburger Stadtgeschichte zu entlocken, bevor er irgendwann bebaut wird.
- Bis ins 13. Jahrhundert wollen die Experten vorstoßen – auf einer Gesamtfläche von 480 Quadratmetern.
Vor der Erkenntnis liegt ein Kraftakt: Auf der archäologischen Grabung an der Harburger Schloßstraße/Ecke Kanalplatz schaufeln drei Grabungsfacharbeiter Sand, Klei und vereinzelt Schutt auf ein Transportband, das in einer acht Kubikmeter Material fassenden Mulde landet.
In dem länglichen Behälter steht ein Kollege. Er hebt mit der Schaufel alles noch einmal um – und entdeckt die eine oder andere historische Scherbe. „Jede archäologische Untersuchung besteht zur Hälfte aus Schaufeln von Material“, sagt Jonathan Baines und füllt seine Schaufel. Hier im Binnenhafen seien es deutlich mehr als 50 Prozent.
Binnenhafen Harburg: Abendblatt-Reporterin wird Teil des Archäologen-Teams
Zwei riesige weiße Zelte schützen die Grabungsstätte und das Team vor Witterungseinflüssen. In der am Kanalplatz stehenden Halle 1 erwartet Grabungsleiter Dr. Martin Eckert die archäologisch relevanteren Schichten und nennt den Bereich Vorderhaus.
Das Hinterhaus – Halle 2 – steht rechts davon, neben den flachen Gebäuden der Technischen Universität Hamburg. Nur in dieser Halle wird derzeit gearbeitet. Es gilt, von der bereits freigelegten Schicht des 18. Jahrhunderts tiefer in die Harburger Geschichte zu graben. Für ein paar Stunden wird die Abendblatt-Reporterin nun Teil des Teams.
Die Arbeit der Grabungshelfer im Binnenhafen? Schweißtreibend!
Der Job als Grabungshelferin ist schweißtreibend. Hier werden nicht mit Spachtel oder gar Pinsel in Feinstarbeit wertvolle Relikte freigelegt. Vielmehr muss eine rund 30 Zentimeter dicke Sandschicht, bedeckt mit ein paar Zentimetern Klei, weggeschaufelt werden, bis der nächste Laufhorizont erreicht ist: der Fußboden der nächst älteren Bauphase.
„Die Schicht hier ist jünger, hier findet sich Schutt aus verschiedenen Zeiten. Alles durcheinander. Sie ist für uns nicht interessant“, sagt Baines.
Grabung im Binnenhafen: An den Schichtungen im Boden die Stadtgeschichte ablesen
An den Schichtungen im Boden lässt sich die Stadtgeschichte ablesen: Ist ein mittelalterliches Gebäude abgebrannt, hinterlässt es eine Brandschicht, ist es auf andere Weise zerstört worden, gibt es eine Schuttschicht. Die Überreste der Gebäude wurden damals nicht weggeräumt. Mit ihnen wurde das neue Haus erhöht gebaut. Als Überschwemmungsschutz im sumpfigen Gelände. Schutt und Brandreste wurden mit einer Schicht Sand nivelliert. Dann folgten der Estrich aus Lehm oder Klei und der Fußboden.
Dieser Aufbau wiederholt sich. „In dieser Gegend gab es viel Zerstörung“, sagt Eckert. „Ich rechne mit acht solcher Phasen, wenn wir bis ins 13. Jahrhundert gehen.“
Entsprechend viel Material muss bewegt werden. In den ersten zwei Monaten seien bereits 23 Muldenbehälter abgefahren worden – macht 184 Kubikmeter Sand (in eine durchschnittliche Schubkarre passen 0,1 Kubikmeter Sand, der dann um die 140 Kilogramm wiegt).
Bis zum Ende der Grabung werden es um die 900 Kubikmeter werden. Eckert: „Das ist eine sportliche Leistung angesichts der Grabungszeit bis Ende April. Wir sind zu wenige Leute. Bei der Grabung in der Hamburger Innenstadt waren auf einer halb so großen Fläche zehn Leute im Einsatz.“
Auf der Stirn der Reporterin sammeln sich Schweißperlen
Eine Schaufel Sand nach der anderen landet auf dem Transportband. Auf der Stirn sammeln sich Schweißperlen, bei 18 Grad Außentemperatur. „Hier im Zelt ist es immer ein paar Grad wärmer“, sagt Grabungspartner Baines. Auch die Regentage hatten dem Team kaum Abkühlung gebracht. Vielmehr stieg die Luftfeuchtigkeit, und die Hallen wurden zu Treibhäusern.
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Dort, wo Sand und Klei zu fest sind, werden sie mit einem Spachtel vertikal abgekratzt. Sand, Sand und noch mehr Sand. Vermutlich Elbsand, liegt ja nahe. Endlich taucht eine Tonscherbe auf. Baines betrachtet sie: „Das ist ein Stück Dachziegel, das kann weg.“
Etwas später finden sich mehrere Fragmente von Tierknochen. „Die schmeißen Sie ebenfalls weg; das Museumsarchiv kann die nicht alle einlagern.“ Okay, also weiter. „Kürzlich hatten wir in diesem Bereich eine Münze gefunden“, sagt Grabungshelferin Sabine Schippers als kleine Motivation zum Weiterschaufeln.
Einer der Archäologen kam 2016 als syrischer Flüchtling nach Deutschland
Grabungsfacharbeiter Ghassan Aloda hat mehr Glück: Er hält eine bemalte Keramikscherbe hoch. „Das ist das Stück eines Tellers oder einer Schale“, sagt der Archäologe, der 2016 als syrischer Flüchtling nach Deutschland kam. Verwertbare Relikte kommen auf den Tisch der Dokumentarin Molly Tate. Sie wäscht die Scherben und ordnet sie den Fundorten zu. „Wir haben hier bislang kein Holz gefunden, an dem sich Altersbestimmungen machen lassen“, sagt sie. „Deshalb sind wir bei der Datierung der Ausgrabungsbereiche auf die Keramiken angewiesen.“
Vor ihr liegen vor allem Scherben aus dem 17. Jahrhundert, so Tate. Das lasse sich im Zusammenhang mit anderen Fundstücken erkennen. „Wir haben hier viele Scherben von Kochtöpfen, gefühlt hunderte“, sagt die Archäologin. „Dazu viele Schüssel- und Tellerscherben. Man sieht, dass hier früher Gastronomie betrieben wurde.“
Gasthaus „Weißer Schwan“: Sogar König Ernst August nächtigte hier
Die Grabung heißt „Weißer Schwan“, benannt nach einem Gasthaus, das an diesem Ort stand. Es zählte zu den renommiertesten Hotels im Harburg des 19. Jahrhunderts. 1846 nächtigte sogar König Ernst August von Hannover in dem zum Kanalplatz ausgerichteten Gasthof. Im Zweiten Weltkrieg war er stark beschädigt worden, wurde aber in der Nachkriegszeit weiter genutzt. 1965 folgte der Abriss.
Der „Weiße Schwan“ wurde erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwähnt. Seine Ära ist in der Grabung bereits abgetragen worden, zumindest in der Halle 1. Am Eingang liegt ein gut ein Meter langes Stück eines Fachwerkbalkens – das einzige Relikt des einstmals stolzen Schwans.
In dieser Halle sind die Grundrisse zweier Gebäude zu erkennen. Auf der Oberfläche zeigen große Feldsteine das Fundament eines Hauses, das wohl der Vorgängerbau vom „Weißen Schwan“ war. Es entstand offenbar um 1720. „Im Lehmmörtel zwischen den Steinen haben wir eine Silbermünze vom dänischen König Christian, dem Fünften aus dem Jahr 1695 gefunden“, sagt Eckert. „Er starb 1699 – die Münze wird nicht länger als bis 1725 im Umlauf gewesen sein. Daraus lässt sich schließen, dass das Haus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaut wurde.“
Muss die Harburger Geschichte neu geschrieben werden?
In Halle 1 sind die Archäologen schon in die Zeit um 1660 abgetaucht, haben dort unter anderem einen Ziegelfußboden aus dieser Zeit freigelegt. An einigen Stellen haben sie noch tiefer gegraben. Etwa bis zum Boden eines Holzofens aus der Zeit bis 1536. Das Jahr markiert eine Zäsur in der Harburger Geschichte. Damals ereignete sich ein Stadtbrand, dem ganz Harburg zum Opfer fiel.
Ein zweiter Brand folgte anno 1564. Von ihm nahm man bisher an, dass er nur die südliche Hälfte der Schloßstraße betraf, nicht jedoch die Häuser der Grabungsstätte. Südlich von ihr befand sich damals ein Fleet, das Rathausfleet. Dort sollte das Feuer Halt gemacht haben.
„Wir haben jetzt eine Brandschicht gefunden, deren Keramiken jünger als 1536 sind“, sagt Eckert. Es könnte sich um die Brandschicht von 1564 handeln. Womöglich hatte das Feuer doch den Sprung über das Rathausfleet gemacht. Wenn sich der Verdacht verdichtet, müsste hier die Harburger Geschichte umgeschrieben werden.