Wilhelmsburg. Mit Blindgängern ist bei Bauarbeiten in Wilhelmsburg immer zu rechnen. Der nächste Fund ist nur eine Frage der Zeit.

Seit vier Jahren fließt der Verkehr über die neu gebaute Wilhelmsburger Reichsstraße entlang der Bahnlinien. Die alte Straßentrasse wird Baugebiet oder dem Inselpark zugeschlagen. Bevor die Arbeiten starten können, muss die Vergangenheit bewältigt werden: Die Suche nach Blindgängern hat bereits acht Bomben aus dem Untergrund ans Licht gebracht, darunter drei besonders große Fliegerbomben.

Der jüngste Fund vom 5. Juli war einer dieser sehr großen Sprengkörper, eine 500 Kilo schwere englische Fliegerbombe. Ihre Räumung unweit der Dratelnstraße (Bauprojekt Wilhelmsburger Rathausviertel) machte vor allem deshalb Probleme, weil die Arbeiten mehrfach unterbrochen werden mussten: Personen waren in den Sperrradius hineingelaufen oder mit dem Fahrrad hineingefahren. Rund 850 Wilhelmsburger mussten deshalb länger auf die Freigabe der Sperrung warten, ebenso zahlreiche Bahn- und Autofahrer.

Alte Reichsstraße: Große Flächen stehen unter Blindgängerverdacht

Die Fachleute vom Kampfmittelräumdienst der Feuerwehr Hamburg und private Räumungsfirmen werden wahrscheinlich entlang der alten Straßentrasse und auf den angrenzenden Bauarealen in den kommenden Monaten und Jahren weitere Blindgänger bergen. Aufgrund massiver Bombardierung sind große Teile der Trasse als Blindgängerverdachtsfläche eingestuft.

Zwei der drei Neubaugebiete erstrecken sich  entlang der alten Trasse der  Wilhelmsburger Reichsstraße.
Zwei der drei Neubaugebiete erstrecken sich entlang der alten Trasse der Wilhelmsburger Reichsstraße. © IBA Hamburg GMBH

„Die Quartiere Wilhelmsburger Rathausviertel und Elbinselquartier wurden bislang nur zum Teil untersucht. Sondierungen und Räumungen erfolgten in zugänglichen Bereichen wie Sportplätze (ESV Einigkeit Wilhelmsburg, Sportanlage Vogelhüttendeich), Kleingärten und künftige Planstraßen“, sagt Anke Hansing von der IBA Hamburg GmbH, die die neuen Quartiere entwickelt. Erst wenn ein Bebauungsplanverfahren weit fortgeschritten ist (Vorweggenehmigungsreife), könne die entsprechende Fläche freigeräumt und auf Kampfmittel untersucht werden, so Hansing.

Zunächst wird nach Munition gesucht

Zunächst werten Mitarbeiter der Feuerwehr Hamburg dann Luftbilder aus, die die alliierten Streitkräfte während des Krieges und kurz nach Kriegsende aufgenommen haben, um die Wirkungen ihrer Bombardements zu dokumentieren. Daraus entstehen Belastungskarten mit Blindgängerverdachtsflächen, eingeordnet in verschiedene Kategorien.

Im nächsten Schritt suchen Fachfirmen in den ersten zwei Metern nach Munitionsteilen (Patronen, Granaten). Diese werden gegebenenfalls beseitigt. Anschließend werden Spezialisten wie die Kampfmittelräumung Nord GmbH aktiv, die die drei 500-Kilo-Bomben in Wilhelmsburg bei Vorerkundungen detektiert und anschließend geborgen hat. „Solche Bomben dringen bis zu fünf Meter ab Geländeoberkante 1945 in den Boden ein“, sagt Tino Jahnke, Geschäftsführer der KMR Nord. „Je nach Dicke der nachkriegszeitlichen Deckschicht bohren wir sechs bis acht Meter tief, um die Kampfmittelverdachtsfläche genauer zu untersuchen.“

In sechs bis acht Meter Tiefe wird gesucht

Ein überdimensionaler Bohrer dreht sich dann an mehreren Stellen ins Erdreich. Jedes Bohrloch wird mit PVC-Rohren bestückt, in denen Sonden heruntergelassen werden. Es folgt eine detaillierte Auswertung der gewonnenen Daten. Ergibt sich daraus ein „öffnungswürdiges Objekt“, legen die Kampfmittelräumer es frei, um es zu identifizieren. Auf dem letzten Meter wird mit der Schaufel gegraben, um den schlummernden Sprengkörper nicht zu wecken.

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Mit einem lauten Knall endete am späten Mittwochabend die Entschärfung einer 1000 lbs schweren englischen Fliegerbombe auf der Baustelle der ehemaligen Wilhelmsburger Reichsstraße.
Mit einem lauten Knall endete am späten Mittwochabend die Entschärfung einer 1000 lbs schweren englischen Fliegerbombe auf der Baustelle der ehemaligen Wilhelmsburger Reichsstraße. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

Doch wie kamen Blindgänger in Kriegszeiten unter die alte Straßentrasse? Drei verschiedene Wege sind möglich: Zum einen ist die Wilhelmsburger Reichsstraße nicht so alt, wie ihr Namen vermuten lässt. Sie wurde seit 1930 geplant und gebaut, aber erst nach Kriegsende vollendet und 1951 eröffnet. In dieser Zeit wurde im zerstörten Hamburg drauflos gebaut, ohne zu untersuchen, ob sich Kriegsaltlasten im Boden befinden.

Aber auch unter älteren Straßen, die den Krieg – wenn auch nicht heil – überstanden haben, sind Blindgänger zu finden, weiß Jahnke: „Die Fallgeschwindigkeit der Bomben ist enorm hoch, während der Straßenaufbau damals nicht so massiv war. Ein schweres Kampfmittel kann eine solche Straße durchschlagen und hinterlässt, wenn es nicht detoniert, nicht viel mehr als ein Einschlagloch. Zudem fällt eine Bombe im Parabelflug. Das heißt, sie schlägt im Winkel auf den Boden auf. Geschieht dies am Straßenrand, kann sie unter die Straße gerutscht sein.“

Wilhelmsburg: Im Mai 2019 begann Blindgängersuche an alter B75-Trasse

Seit Mai 2019 sind die Kampfmittelräumer an der alten Reichsstraßen-Trasse aktiv. In den kommenden Monaten werden bis voraussichtlich Mitte 2024 die beiden Teile des Inselparks zusammengeführt und dadurch der Park um 70.000 Quadratmeter erweitert. Die Erschließung des Areals des Neubauquartiers Wilhelmsburger Rathausviertel hat begonnen. Vom kommenden Jahr an sollen auch das Elbinselquartier und das Spreehafenviertel erschlossen werden. Die Gesamtfläche der Projektgebiete beträgt fast eine Million Quadratmeter.

Unter der ehemaligen Fahrbahn der alten Wilhelmsburger Reichsstraße wurden bereits mehrere Bomben entdeckt.
Unter der ehemaligen Fahrbahn der alten Wilhelmsburger Reichsstraße wurden bereits mehrere Bomben entdeckt. © HA | André Lenthe

Etwa ein Drittel der Kampfmittelsondierungen, die die IBA Hamburg durchführen lässt, seien bislang erledigt, sagt Anke Hansing. Das betreffe Erschließungsmaßnahmen der neuen Baugebiete und den Rückbau der Reichsstraße. Die künftigen Baufelder werden dann im Auftrag der jeweiligen Investoren auf militärische Hinterlassenschaften untersucht werden.

Vieles spricht dafür, dass in den kommenden Monaten und Jahren das Hamburger Nord-Süd-Gefälle in Sachen Bombenblindgänger weiter zum Tragen kommt. „Zwei Drittel aller Bomben finden wir im größeren Umfeld der Elbe“, sagt Sprengmeister Michael Hein vom Kampfmittelräumdienst Hamburg. „Die Stadtteile Harburg und Wilhelmsburg waren mit ihrer Industrie und den Hafenbecken in den Kriegsjahren bevorzugte Ziele.“