Cranz. Im Hamburger Süden sind die Wege oft weit, um sich mit Alltäglichem zu versorgen. Warum es ausgerechnet in Cranz ein Schuhgeschäft gibt.
- Der Stadtteil Cranz gehört zum Hamburger Alten Land liegt im äußersten Westen von Hamburg
- Wer hier lebt, ist weite Wege gewohnt, ob zur Arbeit oder zum Supermarkt
- Eine Sache allerdings können die Cranzer direkt vor der eigenen Haustür kaufen: Schuhe
Ein Schuhgeschäft in Cranz? Der dörfliche Stadtteil im Hamburger Süden ist für Ausflüge ins Alte Land bekannt und sicher nicht als Shopping-Paradies. Das Schuhhaus Tamcke passt hier so gar nicht ins Bild – und ist ausgerechnet hier gut im Geschäft, und das seit mehr als 90 Jahren. Denn es werden nicht nur Schuhe verkauft, sondern auch angefertigt: orthopädische Maßschuhe, die ein besonderes Know-how erfordern.
Ein Schuhladen in Cranz? Aber ja, und das seit über 90 Jahren
„Wir sind bei Fußproblemen bekannt, dann sucht man nach uns“, sagt Rolf Tamcke. „Wir machen keine Werbung – die Kunden kommen durch Mundpropaganda.“ Auch von nördlich der Elbe und aus dem gesamten Süderelbraum. Seit Jahrzehnten. Wenn Rolf Tamcke in den nächsten zwei Jahren seinen Betrieb an Sohn André übergibt, wird in dem Familienbetrieb die vierte Generation am Start sein.
(Ur-)Großvater Georg Tamcke hatte zunächst Schuhe repariert und ausgeliefert. „Wann er genau damit anfing, wissen wir nicht, aber es gibt eine urkundliche Eintragung des Schuhmacher-Handwerks im Jahr 1931.“ Sechs Jahre später entstand das Haus am Estedeich, ein kleiner Werkstattladen mit zwölf, 15 Quadratmetern Fläche. Die hat sich bis heute verzehnfacht.
Cranz: 1937 entstand am Estedeich die Werkstatt mit kleinem Laden
1967 hatte Rolf Tamckes Vater Herbert mit dem Schuhhandel angefangen, das Geschäft eingerichtet und später erweitert. Als 1981 Rolf Tamcke in den Betrieb eintrat, konzentrierte er sich auf die Anfertigung von orthopädischen Maßschuhen. Das Angebot wurde 1997/98 stark ausgebaut. Der letzte große Umbau erfolgte im September 2020. Rolf Tamcke: „Wir haben jetzt weniger Laden und mehr Dienstleistung. Wir mussten die Werkstatt vergrößern, um wettbewerbsfähig zu bleiben.“
Früher war der Schuhhandel bei Tamckes die Nummer eins, heute belegt er Rang zwei. Hinter der Orthopädie-Schuhtechnik. Die bildet auch den Schwerpunkt von Sohn André. Er begann 2006 seine Ausbildung als Schuhmacher und machte 2016 seinen Meister. Dazwischen lag unter anderem ein 14-monatiger Einsatz in Japan: „2012/13 habe ich in Tokio Schuhe produziert“, erzählt er. „Die Japaner arbeiten nur mit deutschem Material und kopieren die deutschen Fertigungsmethoden.“
Computertechnik sorgt für präzise geformte orthopädische Schuhe
Beim Anfertigen von Maßschuhen ist Präzision gefragt, gerade wenn es um kranke Füße geht. Die Kunden bringen ein ärztliches Rezept mit. Erst wenn die Krankenkasse grünes Licht gibt, legen die Schuhmacher los, und es beginnt ein aufwendiger Arbeitsprozess.
Zunächst werden die Füße gründlich vermessen. Der Kunde oder die Kundin stellt sich dabei auch auf einen Scanner. Am Bildschirm lässt sich erkennen, an welchen Punkten die Füße besonders belastet werden – ein wichtiges Merkmal zur Gestaltung des Fußbetts.
Anhand der genommenen Maße wird der Fuß aus Holz präzise nachgebaut. Anschließend wird an diesem Leisten ein Probeschuh angefertigt. Der Schaft (der spätere Oberteil aus Leder) wird mit einer speziellen Kunststofffolie vorempfunden. Unter dem Leisten werden ein maßgefertigtes Fußbett und die Sohle montiert. Dann wird der aus zwei Teilen bestehende Holzfuß aus dem Probeschuh herausgezogen.
Diabetiker empfinden keinen Schmerz, wenn der Schuh drückt
Jetzt ist die Zeit reif für die Anprobe. Die Kunden schlüpfen in die Prototypen ihrer Maßschuhe. Wenn nötig, wird das Fußbett mit Sensoren bestückt, die mögliche Druckpunkte anzeigen. Das geschieht zum Beispiel bei Diabetes-Patienten mit Fußproblemen. Bei ihnen sind Nerven an den Füßen abgestorben, so dass sie keinen Schmerz empfinden, wenn der Schuh drückt. Die Sensoren helfen hier aus.
Für die Versorgung von Diabetes-Patienten haben Rolf und André Tamcke eine spezielle Ausbildung durchlaufen. Auch für einen zweiten delikaten Arbeitsbereich, dem Anfertigen von orthopädischen Sicherheitsschuhen für Arbeiter, sind sie gerüstet.
Cranzer Maßschuhe für Neukunden kosten bis zu 2000 Euro
„Bei der Anprobe wird auch besprochen, wie die Schuhe aussehen sollen“, sagt Rolf Tamcke. „Wir besprechen das Design, die Leder- und Sohlenfarben, die Verschlussart. Schließlich sollen die Kunden ihre Schuhe gern tragen.“ Generell versuchen die Schuhmacher, „das Orthopädische so zu verbauen, dass es möglichst wenig auffällt“, ergänzt André Tamcke.
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Solche Maßschuhe kosten bei Neukunden, deren Füße noch nachgebildet werden müssen, zwischen 1500 und 2000 Euro. Natürlich würden die Tamckes auch Schuhe für gesunde Füße anfertigen, aber das komme selten vor, sagt der Junior. „Vielleicht einmal pro Jahr.“
Das Schuhgeschäft bietet bequeme Sport- und Freizeitschuhe an
Drei Vollzeitkräfte arbeiten in der Werkstatt, Mitarbeiter Swen Sörensen unterstützt Vater und Sohn. Rolf Tamckes Frau Gunda macht die Büroarbeit, übernimmt das Qualitätsmanagement und fährt zu Kunden, die Kompressionsstrümpfe brauchen – auch die gehören zur Warenpalette des Schuhhauses, als Handelsware. Ebenso diversere Sorten von Einlagen, die wiederum in der Cranzer Werkstatt gefertigt werden.
Drei Verkäuferinnen komplettieren das siebenköpfige Team. Sie bedienen im Schuhgeschäft. Dort sind „Bequemschuhe, die schick sind, gut aussehen“ erhältlich, so Rolf Tamcke. Für Damen, Herren und Kinder. „Modische Schuhe führen wir nicht, das können andere besser.“
Früher wurden Schuhe genäht und genagelt, heute werde meist nur geklebt
Auch das dritte Standbein, die Schuhreparatur, bleibt für das Schuhhaus wichtig: „Es ist nicht unser Hauptbestandteil, aber darauf verzichten möchten wir nicht“, sagt André Tamcke. Viele, gerade preiswerte Schuhe, seien allerdings so schlecht verarbeitet, dass eine Reparatur kaum lohne, sagt der Senior.
Und kritisiert die Wegwerf-Mentalität vieler Menschen. Gutes, nachhaltiges Schuhwerk habe es in diesen Zeiten schwer. „Heute muss in der Fabrik alles schnell gehen, die Schuhe werden verklebt. Früher wurde genäht und genagelt, das ist besser zu reparieren.“ So wie zu Großvaters Zeiten.